Die Konversation beginnen ... und aufrechterhalten

[42] Zurück zu unserer Frage. Angenommen, der »Dauerredner« sei für den Moment »unschädlich« gemacht. Wie zieht man nun jemand ins Gespräch, der an sich nicht ungern reden möchte, sich aber bisher nicht hat durchsetzen können? Es gibt dabei, wie gesagt, zwei Phasen: Erst muß man ihn zum Reden veranlassen, dann muß man ihn ermutigen, weiterzureden.

Viele Leute meinen, es sei unfein, dem Tischnachbarn Fragen zu stellen. Diese Meinung ist völlig verfehlt. Es kann gar kein rechtes Gespräch in Gang kommen, wenn nicht gelegentlich auch gefragt wird. Es sind lediglich zwei Regeln dabei zu beachten. Die erste ist die, daß die Fragen nicht indiskret sein dürfen. »Wie alt sind Sie?« oder »Was haben Sie da für ein merkwürdiges Muttermal?« geht selbstverständlich nicht. Hingegen ist es absolut nicht indiskret, nach dem Beruf und den Lebensumständen des betreffenden Nachbars zu fragen. Für manche Menschen ist es ein Albtraum, bei Tisch neben einem Gelehrten sitzen zu müssen, denn diese Spezies ist bekannt dafür, daß sie oft keine Konversation machen kann. Aber auch hier darf man ruhig fragen: »In welcher Fakultät sind Sie?« oder: »Was ist Ihr Spezialgebiet?« Mit diesen beiden Schlüsseln läßt sich oft eine Fülle von Information eröffnen. Wer zusätzlich über den Umgang mit berühmten Leuten informiert sein möchte, schlage den Abschnitt »Große Tiere« (Seite 69ff.) nach.

[42] Mit der Frage nach Beruf und Lebensumständen kann man in den meisten Fällen schon den Partner enthemmen. Nur eines ist noch zu bedenken! Wenn man die Konversation mit Fragen beginnt, kann sich ein introvertierter Partner leicht »ausgefragt« vorkommen: Statt aufzutauen, verkrampft er sich und gibt nur ungern Antwort. Deshalb ist es ratsam, die Konversation nicht gleich mit einer Frage zu beginnen, sondern mit einer eigenen Äußerung, die nicht allzu kurz sein darf. Also nicht: »Heiß ist es hier. Was haben Sie für einen Beruf?«, sondern etwa: »Sehr schön, dieser Salat. Da ist auch Fetakäse dabei, aus Griechenland. Da werden sich Schneiders freuen; die sind ja so große Griechenland-Fans. [...] – Aber nun möchte ich Sie einmal fragen: Wo sind Sie eigentlich jetzt tätig?«

Selbstverständlich ist die Frage nach dem Beruf nur eine unter vielen Möglichkeiten. Wir haben aber – bei einer Ex-Nonne, bei einem thurgauischen Dorfwirt, bei einer brasilianischen Schönheitskönigin und vielen anderen – die Erfahrung gemacht, daß sie gerne beantwortet wird und zu einer angeregten Unterhaltung führt. Im übrigen wird der Erfahrene bereits, wenn er Platz nimmt und seinen Nachbar zugeteilt bekommt, diesen etwas »einschätzen« und sich fragen, an welchen Themen er/sie wohl Freude haben könnte.

Aber wie ist es bei Frauen »ohne Beruf«, Hausfrauen also, die in Wirklichkeit einen der anstrengendsten und variantenreichsten Berufe haben? Das Nächstliegende ist natürlich das Thema Kinder. Auch hier meinen wir, die Frage nach Kindern dürfe man ruhig stellen. Sind keine da, so wird sich immer noch ein Thema finden, und die Zeit, wo eine Frau ohne Kinder generell traurig zu sein hatte, ist glücklicherweise vorbei. Wenn aber Kinder da sind, so wird sich etwa folgendes abspielen: »Haben Sie Kinder?« »O ja, vier Jungen.« »Das ist aber schön.« »Du meine Güte, nein, das ist gräßlich. Stellen Sie sich vor, gestern hat der Älteste ...«, und so weiter, die Schleusen sind geöffnet.

Im Zusammenhang mit diesem Thema noch etwas Wichtiges. [43] Natürlich gibt eine Frau gern Auskunft über ihre Kinder, wahrscheinlich sogar über ihren Mann. Aber sie soll daneben auch Gelegenheit erhalten, von sich selbst zu sprechen. Also muß der Partner sie an einem Punkt des Gesprächs auf sich selbst zurücklenken. Dies kann zum Beispiel indirekt geschehen. Also besser nicht schlagartig: »Haben Sie ein Hobby?«, sondern, anschließend an das über die vier Buben Gesagte: »Ja, haben Sie denn bei all dem Betrieb auch noch Zeit für sich selbst? Für ein Hobby zum Beispiel?« Dann sind nicht nur die Weichen auf das Thema Hobby gestellt; der Partner hat durch seine Frage auch gezeigt, daß er an dieser Frau teilnimmt, daß er sie in seiner Phantasie mitsamt ihrem ausgefüllten Tag sieht und sich (etwas besorgt) fragt: Ja, kann sie denn das alles bewältigen, ohne zusammenzubrechen? Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt berührt: Ein Gesprächspartner ist umso besser, je mehr er dem anderen Partner das Gefühl gibt, er nehme an seinem Leben teil und interessiere sich ehrlich für ihn. Wir kommen auf diesen Punkt zurück.

Und nun – endlich – zur dritten »Phase«. Nehmen wir an, der Dauerredner sei durch Ablenken oder durch eine Zweitkonversation »unschädlich« gemacht, und der scheue Partner sei durch interessiertes Fragen zum Reden gebracht. Nun sind wir immer noch nicht ganz am Ziel. Es ergibt sich nämlich oft die Situation, daß ein (scheuer) Partner zwar auf unsere Fragen antwortet, aber nur kurz, um bald wieder zu verstummen. Hier ergibt sich für uns als weitere Pflicht: Der Partner muß »warmgehalten« werden, ermutigt werden, weiterzufahren. Wir dürfen ihn also nicht »versanden« lassen, indem wir auf seine Äußerungen nichts sagen oder nur ein gleichförmiges »mhm mhm«. Ebensowenig dürfen wir ihm das Wort gleich wieder entziehen und mit unserer eigenen Suada fortfahren. Vielmehr müssen wir so reagieren, daß der Partner unser Interesse und unseren Wunsch nach mehr spürt.

Goethe erzählt uns3, daß ausgerechnet Napoleon, dieser herrische [44] Mensch, dem man dies nicht zugetraut hätte, die Kunst des Eingehens auf den Partner gut beherrschte:


»Dabei muß ich überhaupt bemerken, daß ich im ganzen Gespräch die Mannigfaltigkeit seiner Beifallsäußerungen zu bewundern hatte; denn selten hörte er unbeweglich zu, entweder er nickte nachdenklich mit dem Kopfe oder sagte ›oui!‹ oder gar ›c'est bien‹, oder dergleichen; auch darf ich nicht vergessen zu bemerken, daß, wenn er ausgesprochen hatte, er gewöhnlich hinzufügte: ›Qu'en dit Mr. Göt.‹ (›Was sagt Herr Goethe dazu?‹)«


Wir, die wir nicht Napoleon sind, dürfen hier getrost noch etwas weiter gehen. Positiv, indem wir unser Interesse noch variantenreicher bekunden. Negativ, indem wir uns hüten, uns an der nächsten möglichen Stelle selbst einzuschalten und so lange lebhaft zu reden, daß der Partner wieder verstummt.

Nun wird mancher Leser sagen: Ja, ist denn das alles nicht Heuchelei? Läuft es nicht darauf hinaus, daß ich Interesse heucheln soll, wo ich gar keines habe? Dieser Einwand ist vor allem bei jungen Menschen zu erwarten, die Ehrlichkeit und Höflichkeit gern als Gegensätze verstehen.

Wir haben darauf zwei gewichtige Einwände. Erstens ist zu sagen, daß wir selbstverständlich keine Heuchelei, keinen Gegensatz zwischen Außen und Innen, verlangen. Was wir wollen, ist eine echte Teilnahme, ein echtes Interesse an der anderen Person; und dieses wird sich ganz von selbst auch in der Sprache ausdrücken. Wenn wir sagen: Man soll teilnehmend reden, so heißt das auch: Man soll teilnehmend sein. Und dies wiederum kann man sich mit einigem Willen angewöhnen, obwohl die Menschen dazu natürlich verschieden begabt sind.

Und das zweite: Auch das sogenannte »leere Gespräch«, bei dem keine wichtigen Informationen ausgetauscht werden, hat seinen Wert. Es geht dabei um etwas, was in der Linguistik erst seit etwa zwei Jahrzehnten thematisiert worden ist, was aber heute in der Wissenschaft eine große Rolle spielt. Man hat dafür den ursprünglich englischen Begriff der phatic communion, der auch im deutschen Schrifttum verbreitet ist, wobei übrigens die Bedeutung der beiden Wörter von vielen Linguisten [45] falsch aufgefaßt wird. Die richtige Interpretation lautet so: Phatic (zu griechisch phatis ›Rede‹, ›Sprache‹) heißt ›sprachlich‹, communion etwa ›Gemeinschaft‹ oder noch stärker ›Einswerden‹. Das Ganze bedeutet also: ›durch Sprechen erzielte Gemeinschaft‹ oder: ›Einswerden mit Hilfe von Sprache‹.

Der Begriff phatic communion stammt von dem großen Linguisten und Ethnologen Bronislaw Malinowski (1884–1942), der mehr als andere die enge Verbindung von Sprache, Handeln und Gesellschaft wissenschaftlich erforscht hat4. Er und auch andere Ethnologen haben darauf hingewiesen, daß das Gespräch zwischen Fremden, die frisch zusammenkommen, durchaus obligatorisch ist: Allein durch Reden kann man »beweisen«, daß man keine feindselige Absicht gegenüber dem anderen hat. Es ist also nicht der Inhalt des Redens, sein Informationsgehalt, was wichtig ist, sondern die Tatsache des Redens als solches.

Die phatic communion läßt sich in der ganzen Welt beobachten. Ein Wanderer im Gebirge, der einem anderen begegnet, ruft diesem etwas zu. Wer einen Bauern beim Heuen trifft, wird sagen: »Gibts aus?«, oder: »Warm heute, nicht«, oder etwas ähnliches, was vom Standpunkt der Information aus gesehen unnötig, ja unsinnig ist. Das Unterlassen eines solchen »erweiterten Grußes« wäre ein schwerer Verstoß5.

Die Konversation in Gesellschaft ist nichts anderes als eine Fortentwicklung der allgemein menschlichen phatic communion. Nur sind bei ihr zu der Kundgebung der friedlichen Absicht und des Kontaktwillens noch einige Komponenten hinzugekommen, welche den Zweck haben, dem Mitmenschen Freude zu machen und sein Wohlbefinden zu steigern. An sich ist also Konversation etwas Allgemeinmenschliches und Menschenfreundliches. Daran können auch die dummen und oberflächlichen [46] Konversationen, die es ohne Zweifel gibt, nichts ändern, ebensowenig die Tatsache, daß die Konversation von vielen, die sie nicht beherrschen, als heuchlerisch und innerlich hohl dargestellt wird – ein typischer Fall von sauren Trauben.


Eine der besten Definitionen dessen, was Konversation ist oder mindestens sein sollte, gibt Graf Altenwyl im zweiten Akt des Lustspiels »Der Schwierige« von Hugo von Hofmannsthal:


In meinen Augen ist Konversation das, was jetzt kein Mensch mehr kennt: nicht selbst perorieren wie ein Wasserfall, sondern dem anderen das Stichwort bringen.


Konversation in diesem Sinne ist eine geistige Leistung, die Talent und Übung voraussetzt. Viele Menschen lernen sie ihr ganzes Leben nie, sei es, daß sie es nicht können, sei es, daß sie es nicht wollen. Man hat deshalb eine ganze Menge von Konversations-Surrogaten entwickelt, von Mitteln also, die die Konversation ersetzen sollen. Hierzu gehört einmal laute Musik, bei der man sich nicht unterhalten kann, also auch nicht muß – wir erinnern uns an ein Professoren-Bankett, bei dem zu diesem Zweck Fanfarenbläser eingesetzt waren. Beliebt ist auch die »Beschäfti gungstherapie«: Grill-Parties, Barbecues, Buffets, bei denen man herumgehen, anstehen und sich durchschlagen muß. Fondue bourguignonne ist wahrscheinlich deshalb heute so beliebt, weil sie nicht nur wohlschmeckend ist, sondern auch die Gäste intensiv beschäftigt.

Verbreitet ist die Meinung, es komme bei einer Party vor allem darauf an, »Stimmung« zu erzeugen. Dazu sollen dienen: kräftige Getränke, eine lustige Tischdekoration, Gags aller Arten. In Katalogen von Versandgeschäften kann man immer wieder lesen »erzeugt Stimmung«, »sorgt für Stimmung«, wenn z.B. Gläser angeboten werden, auf denen beim Eingießen kalter Getränke Nackedeis zum Vorschein kommen. Oder eine Nachbildung des Brüsseler Maneken Pis, die als Likörspender eingesetzt wird. In Wirklichkeit führen diese »Stimmungsmacher« [47] höchstens zu einem Abbau der Hemmungen und damit zum bereits geschilderten Gesprächsdarwinismus, bei dem jeder reden, keiner zuhören will. Den gleichen Effekt hat übrigens das Erzählen von Witzen. Diese Surrogate funktionieren alle nicht; es gibt keinen Ersatz für Konversation.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 42-48.
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