Was der gute Verführer beachten soll

[139] Welches sind die sprachlichen Mittel zur erotischen Stimulierung? Hierzu eine paradoxe Grundregel: Wichtig ist es, den Partner zu beunruhigen und gleichzeitig zu beruhigen. Im einzelnen heißt dies: Der Partner soll einerseits aus dem Zustand der Emotionslosigkeit heraus in eine gewisse Erregtheit geführt werden; andererseits soll er (trotzdem) gelöst und entspannt bleiben.

Für das Herbeiführen der Beunruhigung haben die Menschen aller Kulturen – und wohl schon die meisten Tiere – ausführliche Rituale entwickelt. Diese sind, wie alle Rituale, beim Menschen dort am stärksten, wo er noch volkstümlichen Verhaltensmustern folgt, also in archaischen Kulturen oder bei uns in ländlichen Gemeinschaften. Diese haben eine Menge von Neck- und Trutzliedern geschaffen, die zunächst einmal gar nicht nach Liebe aussehen: Der Sprechende oder Singende macht sich selbst wichtig und sucht den Angesprochenen herabzumindern, mit Formulierungen wie: »Du bist auch nicht die Schönste« – »Du bist auch nicht der Schönste« – »Ich habe noch viele andere an der Hand« – »Ich habe dich nicht nötig« – »Überhaupt will ich ewig ledig bleiben«, und so weiter. Oft sind solche Sprüche oder Lieder als Wechselrede ausgebildet, in denen der Bursche und das Mädchen einander abwechselnd [139] angreifen, ja beinahe »heruntermachen«. Ein frühes und typisches Beispiel für ein solches Trutzlied ist das Gedicht »Donec gratus eram tibi« von Horaz (um 23 v. Chr.). Die beiden Liebenden haben sich vorübergehend entfremdet und sprechen (frei übersetzt) so miteinander:


Er: Als ich Dir noch lieb war ...

Sie: Als ich bei Dir noch die einzige war ...

Er: Aber jetzt habe ich eine andere, für die könnte ich sterben.

Sie: Aber jetzt habe ich einen andern. Zweimal könnte ich für den sterben.

Er: Aber, wer weiß, vielleicht ...

Sie: Aber, wer weiß, wenn Du auch leicht wie ein Kork und völlig unzuverlässig bist, vielleicht ...


Wir Modernen, die wir von den alten Traditionen abgelöst und ganz individualisiert sind, singen keine Trutzlieder mehr. Aber sie verdienen dennoch Beachtung: Wie alles Volkstümliche und Traditionelle enthalten sie gewisse Weisheiten. In unserem Falle kann man aus ihnen lernen, daß und wie man etwa den Partner »aus der Ruhe bringen« kann. Dies ist zwar heute nicht besonders nötig, denn wir heutigen beherrschen die Technik des aus-der-Ruhe-Bringens meistens nur allzu gut und brauchen sie nicht eigens zu lernen. Aber es mag – zum Beispiel unter jungen Intellektuellen – immer noch einige geben, welche der Meinung sind, die Liebe sei etwas Süßes (womit sie recht haben), und man dürfe darum in der Liebe nur süß sein (womit sie unrecht haben). Der Typus des »süßen« Liebhabers, der, wie der Volksmund sagt, nur »Süßholz raspelt«, ist wenig gefragt, sicher weniger als der, welcher auch ein wenig Pfeffer oder Paprika in seine Sprache mischt. Necken, ohne zu kränken, lautet die konkrete Forderung.

So wie einerseits eine gewisse Beunruhigung nötig ist, so gehört auch ein gewisses Maß von Beruhigung zur erotisch wirksamen Sprache. Nicht etwa in dem Sinne, daß der Partner eingeschläfert werde, sondern daß er gelöst und entspannt wird. Dies kann ich erreichen, indem ich sein Verhältnis zu sich selbst ins Reine bringe. Die meisten Menschen von heute sind[140] ja nicht selbstzufrieden – obwohl uns das gewisse Medien einreden wollen – sondern äußerst selbstkritisch: Sie halten sich für dumm, unehrlich, häßlich, unverwirklicht, und was dergleichen negativer Eigenschaften mehr sind. Wenn uns nun einer oder eine sagt: »Du bist schön«, »Du bist gescheit«, »Du bist in jeder Beziehung in Ordnung«, und dies womöglich noch begründet, so sind wir geneigt, den Boten, der uns solches mitteilt, um seiner Botschaft willen in unser Herz zu schließen.

Dies gilt besonders für Paare, die schon sexuellen Kontakt haben. Die Befürchtung, »es« nicht recht zu machen und den Partner zu enttäuschen – heute angeheizt durch die Lektüre von aufklärenden Magazinen, die alles zum Problem machen – verunsichert manchen Partner so sehr, daß er am Ende wirklich nichts mehr recht macht. Wenn aber der andere die Gelegenheit wahrnimmt, solche Dinge zu sagen, wie: »Du bist herrlich im Bett«, oder: »Wir stimmen gut zusammen«, oder: »Du warst himmlisch gestern abend«, dann wird der/die Verunsicherte wieder sicher und damit auch objektiv »besser«.2

Und noch etwas Wichtiges in diesem Zusammenhang. Das Selbstbewußtsein der meisten Menschen hat leider die Tendenz, trotz Aufmunterung immer wieder abzubröckeln. In anderen Worten: Eine einzelne Aufmunterung hält nicht lange vor; sie muß darum immer wieder erneuert werden – natürlich nicht in der gleichen, sondern in einer variierten Formulierung. Wenn der (Anti-)Held von Somerset Maughams frühem Drama »A Man of Honour« (›Ein Ehrenmann‹) zu seiner jungen Frau sagt: »Natürlich liebe ich Dich. Ich bin schon blau im Gesicht, so oft habe ich es Dir gesagt«, so ist dies sicher nicht das Verhalten eines Liebenden – die Geschichte endet denn auch mit Mord und Totschlag. Vielmehr soll der Partner, soll die Partnerin dem anderen, ähnlich wie es in der Bibel heißt, sieben mal siebenundsiebzig mal etwas Liebes und Aufrichtendes sagen. Oder, wissenschaftlich ausgedrückt: Solche Bestätigungen [141] sind keine bloß individuellen Handlungen, sondern Rituale, zu denen es wesensmäßig gehört, daß sie immer wieder neu und immer wieder notwendig sind, genau so wie das Grüßen oder das Ostereiersuchen.

Wir sagten: sowohl Beunruhigung wie Beruhigung. Wer nun glaubt, dies sei ein unlösbarer Widerspruch und gar nicht ausführbar, dem kann man sagen, daß es eine einfache und immer wieder ausgeübte Sozialhandlung gibt, die definitionsmäßig beruhigt und beunruhigt, nämlich das Kompliment.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 139-142.
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