1. Gespräch mit Goethe.

[81] »Die Unterhaltung mit ihm hat meine ganze Ideenmasse in Bewegung gebracht.«

Schiller über Goethe in Diezmann's

»Leben Schiller's«.


»Der Flötenspieler Lobe aus Weimar hat sich gestern auf unserm Theater mit großem Beifalle hören lassen, den er auch ganz verdient. Eine reine Tonleiter durch das ganze Instrument, mit der größten Fertigkeit verbunden, wird bewundert, und auch seine eigene Composition hat Gedankenfülle, welche nur noch die Kraft erwartet, die sich wol auch einfindet, wenn sich das Fingergeschlecht hinlänglich wird ausgearbeitet haben.«

Goethe-Zelter, »Briefwechsel«, III, 119.


Ich hatte mich mit der Bitte um ein Empfehlungsschreiben an Zelter schriftlich an Goethe gewendet, da ich den Muth nicht fand, mein Gesuch mündlich vorzubringen; er ließ mir aber sagen, daß ich[81] den andern Tag um 12 Uhr zu ihm kommen möge, da er mich zu sprechen wünsche.

Es würde keinen uninteressanten Beitrag zu dem Capitel von den gemischten Gefühlen in der Psychologie abgeben, wenn ich den ungeheuern Wirrwarr von Schreck und Freude schildern könnte, der mein Inneres diesen und den folgenden Tag durchströmte. Ich beginne aber meine Erzählung gleich mit dem Momente, als ich mit dem stärksten Herzschlag, den ich je in meinem Leben gehabt, und mit einem vom dichtesten Nebel der Befangenheit umflorten Kopfe vor dem Dichterfürsten stand.

Er durchschaute meinen miserablen Zustand mit dem ersten Blick, und begann, um einen sprechfähigen Menschen aus mir zu machen, mit gewinnendster Freundlichkeit zu fragen, wann ich abzureisen gedenke.

Ich wußte, daß er nach Karlsbad reisen werde, und hatte deshalb mein Gesuch lange vor den Theaterferien eingereicht, in denen ich erst Urlaub erhalten konnte. Dies war der Gedanke, den ich ihm zu erwidern hatte, den ich aber so verwirrt vorbrachte, daß ich fürchten mußte, er werde mich als unzurechnungsfähig sogleich entlassen. Aber er war in einer seiner liebevollsten Stimmungen und fuhr sogleich fort:

»Ein Brief an Zelter geht morgen ab. Ich werde[82] Ihrer darin gedenken, und Sie mögen bei ihm einsprechen, wann Sie können, er wird Sie freundlich aufnehmen. Indessen habe ich Sie sprechen wollen, um den Zweck Ihrer Reise näher kennen zu lernen, sodann auch, um Ihnen einige Aufträge zu ertheilen. Sagen Sie mir zunächst, was Sie von einem Besuch bei Zelter hoffen und wünschen.«

Diese so nachsichtsvolle Rede fing an, eine beruhigende Wirkung auf mich zu machen, es tauchte allmälig etwas Fassung in mir auf, und ich erwiderte mit weniger gedrückter Stimme und Redeweise, daß ich vor Allem den Wunsch hege, einer Aufführung oder wenigstens einer Probe der Singakademie beiwohnen zu dürfen, über deren treffliche Leistungen so viel Rühmliches verlaute.

»Ich konnte mir's denken«, bemerkte Goethe, »allein das ist nicht so leicht, und meine Empfehlungen haben nicht jederzeit den gewünschten Erfolg gehabt. Ob es gleich Zelter nicht an Bereitwilligkeit fehlt, so stehen doch die Umstände nicht ganz in seiner Gewalt. Indeß Sie sind jung, und die Jugend hat Glück.«

Ach, nicht jede! klagte es in meinem Innern, ohne daß ich dem Gedanken Ausdruck zu geben gewagt hätte. Goethe las ihn offenbar in meinem Gesicht, denn er fuhr sogleich fort:[83]

»Oder glauben Sie an den Ausspruch nicht?«

Ich hatte so viel Muth gewonnen, um die Erwiderung zu wagen, daß der Gedanke wahr sein müsse, da Excellenz ihn ausspreche. Aber alles habe Ausnahmen, und mir komme es zuweilen vor, als gehöre ich zu derartigen Ausnahmen.

Da nahm sein Gesicht einen ernstern Ausdruck an, und er bemerkte: »Eine solche Aeußerung höre ich von keinem Menschen gern, am allerwenigsten von jungen Leuten, die noch gar nicht wissen, was zu ihrem Glück dienen kann. Zudem deutet sie auf hohe Ansprüche und auf Verzagtheit zugleich. Damit verbittert man sich das Leben und schwächt den guten Muth zum Handeln.«

In der Gefahr kommt mir die Fassung. Diese Wendung des Gesprächs war für mich, der ich Goethe vergötterte, eine große Gefahr. Ich fühlte, daß ich sie durch eine gute Antwort beseitigen müsse, und erwiderte deshalb sogleich mit einer ehrfurchtsvoll dankbaren Miene, indem ich zum ersten Mal den Kopf hob und ihm offen in sein Jupiterauge blickte: Verzeihen Ew. Excellenz meine Bemerkung. Die Lehre schon, deren Sie mich würdigen, muß ich ja als ein Glück erkennen, denn sie wird mir Zeitlebens im Gedächtniß bleiben; ich werde mich derselben dadurch[84] würdig zu machen suchen, daß ich sie stets mit gutem Muth zu befolgen trachten will.

Bei dieser Antwort nahmen seine Züge wieder den frühern freundlichen Ausdruck an, und er entgegnete beruhigend: »Halten Sie diesen Entschluß fest, und Sie werden gut dabei fahren. Und da Sie guten Rath annehmen, so will ich Ihnen mittheilen, worin meine Aufträge bestehen, wovon Sie jedoch keine Mittheilung an Andere machen wollen.«

»Ich wünsche nach Ihrer Rückkehr von Berlin ein getreuliches Referat über die dortigen Zustände von Ihnen zu vernehmen, über das öffentliche Leben, so viel Sie es zu beobachten Gelegenheit finden, über die Personen, mit denen Sie etwa in Berührung kommen, namentlich über Theater und Musik. Ich erhalte zwar von Zelter gute Schilderungen, aber er ist alt und Berliner. Sie sind jung und Weimaraner. – Haben Sie schon früher Reisen gemacht?«

Es ist meine erste, Excellenz, erwiderte ich, und ich würde auch diese nicht unternehmen können, wenn ich nicht hoffen dürfte, auf der Berliner Bühne in den Zwischenacten als Virtuos mich produciren und durch das Honorar die Reisekosten gewinnen zu können.

»Gut«, sagte er, »so werden die Eindrücke um so frischer auf Sie wirken. Lassen Sie sich nicht durch[85] ihre Neuheit übermannen und zur Ueberschätzung verleiten. Beobachten Sie mit Unbefangenheit, legen Sie den Dingen Nichts von dem Ihrigen bei und unter. Sie werden hoffentlich Wolfs dort besuchen. Merken Sie, wie es diesen in Berlin gefällt und wie sie in Berlin gefallen. Sie finden ferner zu der Zeit der Ferien Unzelmann dort gastirend. Ich wünsche, zu erfahren, wie er von dem Berliner Publikum aufgenommen wird.«

Nicht ohne einigen Stolz auf dieses Vertrauen, das mir der verehrte große Mann zeigte, versprach ich, das Geforderte zu erfüllen, so weit es meine Kräfte nur irgend gestatten würden.

»Es wird gut sein«, fuhr Goethe fort, »wenn Sie sich vorläufig ein möglichst ausführliches Schema aller der Dinge notiren, denen Sie Ihre Aufmerksamkeit zuwenden vollen, mit Hauptrubriken und Unterfragen. Schreiben Sie z.B. unter ›Theater‹ als specielle Fragen: Stück? Dichter? Schauspieler? Aufnahme des Publikums? Wirkung auf mich? Und da Sie mir geschrieben, daß Sie in Gesellschaft zweier Kameraden reisen, auch ›Wirkung auf diese?‹ u.s.w. Sie entgehen damit der Gefahr, Umstände zu übersehen; Ihre Beobachtungen erhalten Vollständigkeit u.s.w. Führen Sie überdies, wie[86] dort, so auch unterwegs ein genaues Tagebuch, worin Sie Alles, auch das scheinbar Geringfügige, aufzeichnen. Es giebt Nichts, über das sich nicht interessante Beobachtungen anstellen ließen. Gewöhnen Sie sich also, über jede Erscheinung eine Betrachtung oder mehrere zu machen, und wo Ihnen solche nicht im Augenblicke kommen wollen, da schreiben Sie wenigstens in Ihr Tagebuch: ›Hier sind Betrachtungen anzustellen.‹ Was der Geist heute nicht, giebt er morgen oder später.«

Goethe mochte an meinen immer glücklicher strahlenden Augen erkennen, daß ein für seine Lehren empfängliches Menschenkind vor ihm stehe, und es ist ja bekannt, daß er in solchen Fällen und bei sonst guter Stimmung gern von seinen geistigen Schätzen mittheilte. Er nahm stets lebhaftes Interesse für die bildungsdurstige Jugend, und ganz besonders für junge Künstler. Seine Neigung aufzuklären, anzutreiben, auf die bezüglichen rechten Wege aufmerksam zu machen, vor falschen Richtungen zu warnen, war immer groß und nahm mit den Jahren zu. Einen Beleg dazu findet man in dem Gespräch mit Eckermann, worin er diesem erzählt, was er dem Maler Preller angedeutet, als dieser behufs seiner weitern Ausbildung nach Italien reiste.[87]

Danach wird man auch Das, was ich hier aufzuzeichnen habe, keineswegs unwahrscheinlich finden, wenn ich auch bemerken muß, daß dieses Gespräch mein erstes mit ihm war, und er früher wohl kaum etwas Anderes von mir gewußt hatte, als daß ich Virtuos sei. Allein eben deshalb hatte ich vorher an ihn geschrieben, mich ihm selbst zu empfehlen.

Ich hatte in meinem Schreiben auf Manches, was mich beschäftigte und interessirte, hingedeutet, und nicht mit Unrecht gehofft, daß er Weiteres darüber vernehmen wollte. Und so geschah es. War ihm doch jeder Mensch ein Phänomen, daß er durchdringen und aus dem er herauszulocken trachtete, was ihn irgend interessiren konnte, und ihn interessirte ja alles. Ich selbst habe ihn einmal eine halbe Stunde lang in seinem Garten, mit auf den Rücken übereinander gelegten Händen stehen und ein winziges Schlänglein beobachten sehen, das, in einer halb mit Wasser gefüllten Glasglocke hin- und herhuschend, sich seines Lebens zu freuen schien.

»Ich sehe«, begann er weiter, »aus Ihrem Schreiben, daß Sie sich mit mancherlei Gegenständen beschäftigen, für welche die Musiker sich in der Regel nicht interessiren.«

Ich wagte darauf den Einwurf: daß dies vielleicht[88] in frühern Zeiten seltener der Fall gewesen, daß aber in neuerer Zeit gerade die Musiker nach vielseitiger Bildung strebten, wie ja unter Anderm schon die vielen Componisten und Virtuosen bewiesen, die auch mit der Feder nicht ungeschickt umzugehen wüßten.

Ich nannte Reichardt, Zelter, A.E. Müller, unsern frühern Kapellmeister, K.M. von Weber, u.a.m.

»Nun gut! Auch Sie haben, wie ich merke, Versuche der Art gemacht, ohne studirt zu haben. Denn Sie sind, wenn ich nicht irre, 1811 in der Kapelle angestellt worden. Wie alt waren Sie damals?«

Vierzehn Jahre, Ew. Excellenz.

»Also aus der Schule in die Kapelle!«

Ach, und wie aus der Schule, Excellenz! Ich würde erröthen müssen, wenn ich sagen sollte, was ich in der Schule gelernt, oder vielmehr nicht gelernt habe.

»Ihr Schreiben an mich war gut abgefaßt. Wie haben Sie Ihren Stil gebildet?«

Excellenz, wie Franklin es mit dem Addison'schen Zuschauer, habe ich es mit einigen Ihrer Werke gemacht, sie gelesen, den Inhalt gemerkt, nach einiger Zeit diesen in eigenen Ausdrücken nachgeschrieben, das Geschriebene dann mit Ihrer Schrift verglichen, und so in das Wesen Ihres Stils einzudringen gesucht.[89]

»Nicht übel, und welche Werke von mir haben Sie auf diese Weise durch- und nachgearbeitet?«

Zuerst den ganzen Werther.

»Nun«, sagte Goethe lächelnd, »da haben Sie eben keine glückliche Wahl getroffen. Stil und Ausdrucksweise dieser Production haben ein eigenthümliches Gepräge, das nicht wohl nachzuahmen ist, und auch nicht nachgeahmt werden soll.«

Ich habe auch die Propyläen und die Wahlverwandtschaften, dann Wieland's Agathon, Schiller's prosaische Aufsätze und mehrere andere Werke auf dieselbe Weise nachgeschrieben.

»So mag's gehen«, sagte Goethe, »und ich muß Ihren Fleiß loben. – Sie sind also auch, wie ich vernommen, mit der Composition einer Oper beschäftigt? Von wen ist der Text?«

Schüchtern und halblaut sagte ich, daß ich mir ihn selbst habe machen müssen, da ich Niemand gefunden, der mir einen hätte liefern wollen.

»Und Sie sind damit zu Stande gekommen?«

Ich bin bereits mit der Composition desselben beschäftigt.

»So werden wir ja wohl später Gelegenheit finden, den Versuch kennen zu lernen. Aber haben Sie sich nicht zu Viel aufgebürdet? Die Composition einer[90] Oper verlangt einen großen Fond von Kraft und Ausdauer, sollte nicht ein gut Theil davon schon bei Verfertigung des Textes verzehrt worden sein? Fühlen Sie bei der Composition keinen Abgang derselben?«

Meine Lust ist groß, erwiderte ich, arbeiten mein Glück, und obwohl ich von Jugend auf kränklich war, kann ich mir doch große Arbeitspensa zumuthen.

Zudem, fügte ich lächelnd hinzu, hat der Text wohl meine Geduld, aber keine besondere geistige Kraft in Anspruch genommen. Ich habe mir die dramatischen Handwerksgriffe zu abstrahiren gesucht und danach einen Text gemacht, die poetische Kraft konnte Nichts dabei thun, denn die besitze ich nicht.

»Auf alle Fälle«, sagt Goethe freundlich, »haben Sie viel Willenskraft gezeigt, wenn Sie das Unternehmen fort und zu Ende führen. Werden Sie in Berlin Etwas von Ihrer Composition produciren?«

Die beiden Stücke, die ich vorzutragen wünsche, wenn ich zu Gehör komme, sind von meiner Composition.

»Und wie steht es mit Ihren Hoffnungen auf Erfolg? Sagen Sie mir das offen.«

Der tiefe Menschendurchdringer wollte aus meiner Antwort erfahren, welche Art von Künstlernatur vor ihm stehe, ob eine arrogante oder eine verzagte.[91] Ich hatte mich indessen nicht lange zu besinnen, ich kannte mich, oder glaubte mich wenigstens zu kennen, und sprach mich ganz ohne Rückhalt aus.

Was meine Compositionsversuche betrifft, sagte ich, so glaube ich während der Arbeit und kurz nach ihrer Vollendung, daß ich etwas ganz Ausgezeichnetes zu Tage gefördert habe. Bald nachher kommt sie mir jedoch sehr schwach vor, und dann versinke ich in eine trostlose Stimmung und zweifle an allem Talent. Nach einiger Zeit wachen Drang und Hoffnung wieder auf, mit der Hoffnung, den nächsten Versuch vollkommener zu machen, es wiederholt sich das vorige Spiel, und so, setzte ich seufzend hinzu, ist es mir mit allen meinen Versuchen ohne Ausnahme ergangen.

»Das«, sagte Goethe, »ist im Ganzen kein übles Zeichen. Wer mit seinen Productionen stets zufrieden ist, wird nicht weit kommen. Allein man kann auch zu weit gehen, und durch höhere Forderungen an sich, als man im Augenblick praktisch zu erfüllen die Kraft hat, den schaffenden Geist ängstlich machen und paralysiren.«

Goethe lenkte hierauf das Gespräch wieder auf Zelter und fragte dann, was ich von seinen Compositionen halte?[92]

Das wäre wohl für Manchen eine verfängliche Frage gewesen, denn bekannt war, wie Viel Goethe auf seinen Freund hielt.

Ich kannte aber Goethe aus seinen Schriften hinlänglich, um zu wissen, daß er aus den Meinungen Anderer ihre Anschauungsweise kennen lernen wollte, und jede mit großer Toleranz gelten ließ, wenn sie nicht gerade zu abgeschmackt war. Ich fand daher gar kein Bedenken, die meinige unverhohlen auszusprechen, und bemerkte: Ich kenne von Zelter nur seine Liedcompositionen. In der geistigen Auffassung erscheinen sie mir bedeutend und treffend ausgedrückt, aber ihre Form ist antiquirt.

»Erklären Sie mir das näher«, versetzte Goethe.

Unsere Musiksprache, fuhr ich fort, ist seit Haydn und Mozart eine blühendere, sprechendere und anmuthigere geworden. Die Melodie ist bei Zelter immer charakteristisch declamirt, accentuirt und rhythmisirt, aber seine Tonfiguren – Nächstverwandte der Schulze'schen und Reichard'schen – sind jetzt veraltet. Dies fällt bei einfachen Singmelodien, die sich besonders dem Volkston nahe halten, nicht auf, aber es tritt stark hervor beim Accompagnement. Das Zelter'sche ist selten etwas mehr als die nöthige Erfüllung der Harmonie und die Ergänzung und Ausgleichung[93] des rhythmischen Flusses. Die Neueren haben es in ihren bessern Werken zur Mitsprache des Gefühls erhoben. Wenn Excellenz den Versuch machen wollen, Baß und Mittelstimme manches Zelter'schen Liedes ohne die Melodie spielen zu lassen, so werden Sie kaum Etwas von einer mit dem Gefühl sympathisirenden Regung vernehmen; dasselbe Experiment mit einem Mozart'schen, Weber'schen, Beethoven'schen Liede angestellt, zeigt etwas Anderes; da fühlt man oft schon Leben und Regung des bezüglichen Gefühls auch ohne die Melodie, und doch ist dieses erst ein Lallen. Die Musik wird hoffentlich dahin gelangen, daß jede Nebenstimme einen Beitrag, sei er auch gering, zu dem Ausdruck des Gefühls liefert.

Ich war ins Feuer gekommen und erschrak jetzt fast über meine lange Rede. Doch hatte mir Goethe mit etwas geneigtem Haupte und nachdenklichem Blick aufmerksam, und, wie ich mir schmeichle, nicht ohne Interesse zugehört; blieb auch, nachdem ich innehielt, einen Augenblick sinnend stehen. Plötzlich ging er an den Flügel, der in dem Empfangszimmer stand, öffnete ihn und sagte: »Machen Sie mir das vorgeschlagene Experiment gleich selbst. Was man deducirt, muß man, wenn's wahr und klar ist, auch durch Thatsachen erhärten können.«[94]

Ich spielte zuerst das Accompagnement eines Zelter'schen Liedes, dann, wen ich mich recht erinnere, das zu dem Klärchen's aus Egmont: »Trommeln und Pfeifen«, – und endlich die Melodien zu beiden.

»Gut«, sagte Goethe, nachdem ich geendet, »die Welt bleibt nun einmal nicht still stehen, wenn uns ihr Weiterschreiten auch zuweilen aus der Gewohnheit reißt und uns unbequem wird. Denn ich will Ihnen nicht verhehlen, daß mich Ihre Beispiele nicht so getroffen haben, als ich von Ihrem neuen Princip erwartete, das auch gelten mag, wenn es die Musik überhaupt erfüllen kann. Aber darin liegt für euch Jüngere eben der gefährliche Dämon. Ihr seid schnell fertig mit der Creirung neuer Ideale, und wie steht's mit der Ausführung? Ihre Forderung, daß jede Stimme Etwas sagen soll, klingt ganz gut, ja man sollte meinen, sie müßte schon längst jedem Componisten bekannt gewesen und von ihm ausgeübt worden sein, da sie dem Verstande so nahe liegt.«

»Aber ob das musikalische Kunstwerk die strenge Durchführung dieses Grundsatzes vertragen könne, und ob dadurch nicht andere Nachtheile für den Genuß an der Musik entstehen, das ist eine andere Frage, und Sie werden wohl thun, wenn Sie dieselbe fleißig nicht blos durchdenken, sondern auch[95] durchexperimentiren. Es giebt Schwächen in allen Künsten der Idee nach, die aber in der Praxis beibehalten werden müssen, weil man durch Beseitigung derselben der Natur zu nahe kommt, und die Kunst unkünstlerisch wird.«

Diesen Gedanken verstand ich nicht. Ich wagte daher zu sagen: Wenn mich Ew. Excellenz doch würdigen wollten, diesen Ausspruch durch einige erklärende Worte meinem Verständniß nahe zu bringen!

»Es findet sich wohl später einmal Gelegenheit«, versetzte Goethe. »Einstweilen denken Sie selber darüber nach. Nichts übt den Geist mehr, als das Bemühen, Räthselhaftes zu ergründen. Man kommt dabei oft auf Dinge, die man auf gebahntem Wege nach einem klaren Ziele nicht gefunden haben würde.«

Und indem er eine freundliche Kopfbewegung machte, die mir sagte, daß ich entlassen sei, setzte er noch hinzu: »Vergessen Sie nicht, mich nach Ihrer Zurückkunft von Berlin zu besuchen.«

Ich versprach's, drückte meinen innigsten Dank für seine Güte ehrfurchtsvoll aus und empfahl mich.

Das war eine der glücklichsten, und ich darf sagen für mein künftiges Streben relativ einflußreichsten Stunden meines Lebens.[96]

Quelle:
Lobe, Johann Christian: Aus dem Leben eines Musikers. Leipzig 1859, S. 81-97.
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