Nicht steif, aber grade! Frau Rudolf M. née L.?

Die gerade Körperhaltung bei Tisch hatte ich schon in einem vorgehenden Abschnitt anempfohlen. Eine Leserin, die ich um ihr weiteres Interesse für meine Etikette-Plaudereien nur bitten kann, schreibt Folgendes: »Ich kann nicht finden, daß behagliche Stimmung durch steifes Geradesitzen bei Tisch erhöht wird Ich finde im Gegenteil eine ungezwungene Haltung viel netter. Warum soll man nicht auch die Arme auflegen, selbst die Ellbogen stützen? Es muß Alles mit Grazie und Chik gemacht werden. Besonders in der Unterhaltung mit seinem Gegenüber wirkt es entschieden steif und unnatürlich, wenn man artig die Arme unter dem Tisch läßt und recht gerade dasitzt.« Ich bin – Gott sei Dank, denn ich würde es mit der Einsenderin[88] obiger Zeilen nicht gern verderben –, ich bin im Allgemeinen derselben Ansicht. Natürliches Wesen, das habe ich schon öfter betont, halte ich für eine Grundbedingung äußerer Vornehmheit – und Ungezwungenheit, natürlich innerhalb des Rahmens der guten Sitte, für ein Zeichen von selbstbewußter Sicherheit im Benehmen. Der Mensch muß Einem doch leid thun, dem man die beständige Angst anmerkt, irgendwo anzustoßen oder irgendwie zu mißfallen.

Ich möchte nur behaupten, man könne gerade bei Tisch sitzen, ohne steif zu sein; meiner Ansicht nach gehören die Hände stets auf den Tisch, und die Unterarme oder wenigstens ein Teil derselben dürfen direkt auf dem Tisch ruhen. Nur bin ich entschieden gegen ein Aufstützen der Ellbogen auf den Tisch, wenn man eben Wert darauf legt, ein Muster-Etikettenmensch zu sein. In den Himmel soll man ja allerdings auch kommen, ohne dieser letzten Anforderung zu genügen. Aber ganz richtig ist es: es kommt immer auf daß Wie an; wenn es auch Menschen giebt, die selbst beim Aufstützen ihrer Ellbogen auf den Tisch nicht ungraziös erscheinen, so sind sie dann eben besonders[89] begnadet, wenn sie trotz einer im Allgemeinen unchiken Körperhaltung noch graziös erscheinen.

Anfrage: »Steht der Titel ›Hochwohlgeboren‹ nicht auch den Offizieren der Reserve und der Landwehr zu«? Ich hatte mich in einem vorhergehenden Abschnitt dahin geäußert, daß der Titel »Hochwohlgeboren« den aktiven deutschen Offizieren zusteht. Die obige Anfrage ist mir deshalb besonders erwünscht, da sie mir Veranlassung giebt, meinen Irrtum zu berichtigen. Früher wurde offiziell das »Hochwohlgeboren« nur dann den Offizieren der Reserve und Landwehr verabfolgt, wenn sie in ihrer Eigenschaft als solche Schreiben erhielten oder wenn sie Militärdienst thaten. Infolge einer Allerhöchsten Bestimmung unseres jetzigen Kaisers steht den Offizieren der Reserve und Landwehr der Titel »Hochwohlgeboren« überhaupt – ohne jede Einschränkung – zu. Auch die zur Disposition gestellten und die verabschiedeten Offiziere der Reserve und der Landwehr führen den Titel »Hochwohlgeboren«, und infolgedessen werde ich auch an die Frauen der Genannten »Hochwohlgeboren« adressiren können, und zwar ohne auch als Erklärung hierfür die Offiziers-Charge des Ehegatten anführen zu müssen.[90]

Noch Einiges über das Adressiren an Damen: Statt des veralteten »Ihro« schreibt man jetzt stets »Ihrer Hochwohlgeboren«. Es kommt immer mehr auf, die verheirateten Frauen sowohl in der Anrede als auch auf dem Couvert nicht mehr mit dem Berufs- oder Ehrentitel des Mannes zu nennen, sondern statt Frau Assessor A. oder Frau Doktor B. einfach Frau A. oder Frau B. zu tituliren. Es ist das um so berechtigter, als jetzt in der Zeit der zunehmenden Frauen-Emanzipation doch auch Damen manchen bisher nur dem Manne zugänglichen Beruf ausüben und einen dementsprechenden Titel wie z.B. »doctor med.« für ihre eigene Person erworben haben. Die ihren ärztlichen Beruf ausübende Frau – oder meist wohl Fräulein – Dr. med. A. hat schließlich ein Recht, ihrer gleichbenannten Mitbürgerin, welche nur die Gattin des Dr. med. A. ist, die gleiche Titulatur zu mißgönnen. Die Frau des Dr. med. A. hat ja speziell vor dem Fräulein Doktor das Voraus, daß sie ihren Dr. med. nicht allein als wesenlosen Titel, sondern als ihren lebendigen Ehemann besitzt. – Die Frau eines Majors X., der aus einer entlegenen Provinzialstadt in eine größere Garnison versetzt[91] war, stellte sich in der Gesellschaft einer andern Dame selbst vor mit den Worten: »Frau Major X.« In Ermangelung eines wichtigeren oder geistreicheren Gesprächsthemas zerbrach man sich darüber den Mund und verstieg sich zu dem Kalauer: »Die Frau des Herrn Major X. ist jedenfalls bei der Heilsarmee, da sie selbst ihren Majorstitel beim Vorstellen so betont.« Auch bei dem Adressiren an Frauen und bei der Anrede derselben wird vielfach so verfahren, daß man die adlige allein mit ihrem Namen, die bürgerliche hingegen mit dem Berufstitel des Mannes nennt. Wenn man annehmen kann, daß es Frauen bürgerlichen Namens so haben wollen, so ist das entschieden ein triftiger Grund, ihrem Wunsche nachzukommen. Wie ich schon früher beim Thema »Anrede des Leutnants« darlegte, so habe ich auch hier einen ähnlichen Verdacht; wer die Frau des Assessors von Müller »Frau von Müller« und die Frau des Assessors Müller »Frau Assessor Müller« anredet, dem ist der bürgerliche Name – vielleicht?! – nicht gut genug, um ihn allein auszusprechen. Beim Adressiren an eine Frau wird man schon mit Rücksicht auf die Post – zur leichten Auffindung[92] der Adressatin – oft den Berufstitel des Mannes anführen; beim Anreden und Vorstellen halte ich es nach meinen gesellschaftlichen Erfahrungen für vornehmer, eine Frau, auch die bürgerliche, nur mit ihrem Familiennamen ohne Berufstitel des Mannes zu nennen, namentlich, wenn der Ehegatte in seinem Berufe noch eine der untersten Stellungen einnimmt. In der Anrede zwar kann ich mich ja durch die bekannten zwei Worte, »gnädige« oder an Sonn- und Feiertagen und sonstigen festlichen Gelegenheiten »gnädigste Frau« aus der Affäre ziehen. Ich bin der Ansicht, einer Frau, die ich nur mit ihrem Namen vorstelle, markire ich dadurch mehr, daß ich sie ihrer selbst willen als Dame ehre, ganz abgesehen von der Berufsstellung des Ehegatten. Natürlich werde ich unter Umständen von dem, was ich für das Vornehmste halte, abweichen, wenn der offenbare oder wahrscheinliche Wunsch des oder der lieben Nächsten mir diese Abweichung nahelegt. Es macht keinen angenehmen Eindruck, wenn man Jemandem anmerkt, er will mit besonderen Etikettefinessen prahlen. Man soll sich seiner Umgebung anzupassen suchen. Wenn ich z.B. in einer friedlichen, gemütlichen Gesellschaft – sagen wir in[93] Posemuckel – bin und die Titulaturen »Frau Amtsrichter«, »Herr Apotheker«, »Herr Inspektor« »Frau Doktor« mich umschwirren, dann mache ich eben für die Zeit, so lange ich dort bin, Alles mit, was in Posemuckel pschütt oder smart ist. Uebrigens bitte ich sehr um Verzeihung, wenn ich in meinen »Etikettefragen« diese Ausdrücke der Formen-Gigerl »pschütt und smart« erst so spät anbringe und sie vielleicht für die Zukunft ganz vergesse. »Smart« – wohl dasselbe wie das gleichfalls nicht deutsche »chic« – soll noch mehr Modewort sein als das klangvolle »tip-top«.

Wohl aus Frankreich ist es bei uns eingeführt, das manche Frauen sich auch mit dem Vornamen ihres Gatten auf Visitenkarten oder in ihren Unterschriften nennen, sie werden es natürlich auch gern sehen, wenn man auf Couverts in gleicher Weise an sie adressirt, also z.B. »An Frau Rudolf M.« Man findet dies oft bei Frauen von Großindustriellen oder berühmten Künstlern, Gelehrten oder Schriftstellern oder auch sonst bei mehr oder weniger bekannten Namen. Man wird bei dieser Sitte oft auf eine besondere Anhänglichkeit an den Gatten oder bei Witwen auf ein besonders treues[94] Andenken an den Verstorbenen schließen können. Bei verheirateten Frauen, natürlich wenn man es eben weiß, erwähnt man auf der Adresse auch den Geburts- oder Mädchennamen. Die Bezeichnung, »née«, der französische Ausdruck für »geborene«, gilt als altmodisch, trotzdem man sonst in den vornehmsten Kreisen noch vielfach unter recht prononcirter Aussprache mit einzelnen französischen Brocken paradirt. Auf den Adressen an adlige Frauen mit bürgerlichem Mädchennamen lassen Viele diesen letzteren, auch wenn sie ihn wissen, fort. Ich halte das auch dann oder vielmehr gerade dann für falsch, wenn man dadurch dem Wunsch der betreffenden Frau entsprechen würde. Daß es auch solche Frauen giebt, die ihren guten bürgerlichen Mädchennamen lieber verschweigen, schließe ich daraus, daß ich thatsächlich schon Visitenkarten adliger Frauen gesehen habe, die ihren bürgerlichen Mädchennamen darauf nicht angegeben haben. Es kann dies ja auch ohne Ueberlegung geschehen sein; jedenfalls aber kann es den Verdacht erregen, daß die betreffende Frau absichtlich ihren ehemahligen bürgerlichen Namen verschweigt. In solchem Fall ist es zu verwundern, daß der zugehörige Ehegatte sich nicht als thatsächlich[95] bessere und klügere Hälfte zeigt und seine Frau belehrt und daran verhindert, sich dem Verdacht einer mangelnden Anhänglichkeit an ihr Elternhaus und den Verdacht einer thörichten Handlungsweise auszusetzen. Eine Frau, die absichtlich ihren bürgerlichen Geburtsnamen auf der Visitenkarte verschweigt, handelt auch thöricht, denn sie erreicht das Gegenteil von dem, was sie will. Eine Visitenkarte einer ursprünglich nur Wohlgeborenen mit der alleinigen Aufschrift »Frau A. von X.« und unter Fortlassung des bürgerlichen Mädchennamens – eine solche Visitenkarte ist ein zu interessantes Kaffeeklatschthema, als daß man dem bürgerlichen Namen nicht sofort nachforschte und für seine Verheimlichung auch noch möglichst ungünstige Erklärungen herauszutüffteln wüßte.[96]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 88-97.
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