Uebervolle Schüsseln und Teller. Serviette. Besteck wechseln.

[38] Eine sehr dankenswerte Anregung aus dem Leserkreise veranlaßt mich einigen weiteren Erörterungen über Manieren bei Tisch.

Man achte darauf, die Schüsseln nicht zu sehr mit dem betreffenden Gericht zu beladen, nicht bis dicht an den Rand einer Saucière oder Schüssel anzufüllen. Viele Hausfrauen, namentlich aus dem goldenen Mittelstande, glauben durch überfüllte Schüsseln ihre gastliche Freigebigkeit zu bekunden, aber ästhetischer und praktischer ist es, die Schüsseln nicht übermäßig zu beladen. Unsere dienstbaren Geister sind doch keine Balancir-Künstler, und es ist schwierig für sie, beim Tragen und Präsentiren übervolle Gefäße so zu halten, daß der betreffende Inhalt[39] oder ein Teil desselben nicht über Bord geht. Andererseits ist es für den Tischgenossen mühsam, von einer übervollen Schüssel zuzulangen und dabei Alles, was er nicht auf seinem eigenen Teller haben will, in dem präsentirten Gefäß zu belassen. Eine Materie, die für den menschlichen Magen bestimmt ist, also Speisen und Getränke, darf sich nicht aufs Tischtuch oder – noch schlimmer – auf die Kleider der Schmausenden verirren. Letzteres schädigt zugleich mit dem Anzug oft auch die frohe Laune des Betroffenen. Der Vollblut-Formenmensch allerdings wird sich mit stoischem Gleichmut begießen lassen. »Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.« Der Fettfleck, der einmal auf dem Rockärmel Posto gefaßt hat, verschwindet dadurch nicht, daß man wie der Schillersche »Eisenhammer«-Graf die finsteren Brauen rollt und den betreffenden dienstbaren Geist, den das Bewußtsein seiner Nachlässigkeit schon genug bedrückt, noch durch Blicke oder gar in Worten tadelt. Das überlasse man den Wirten, die natürlich auch besser ihre Mißbilligung später – als sofort in Gegenwart der Gäste – äußern. Auf flachen Schüsseln, wie Braten-oder Fisch-Schüsseln, wird man thunlichst[40] beim Auflegen des Gerichtes den Rand frei lassen, denn der Rand ist lediglich zum Anfassen da und soll durch seine Neigung nach oben ein Herabgleiten der Speisen verhindern. Also, wer auf vornehmes Serviren Wert legt und über keine genügend große Schüsseln verfügt, wird ein Gericht lieber auf mehreren Schüsseln serviren. Man erzählte mir von einem Diner – entsprechend unserem Respekt vor dem Fremdländischen nennen wir Deutschen doch so ein Mittagessen unter feierlichen Umständen – man erzählte mir einst, wie ein Lohndiener – vermutlich über den Teppichrand – beim Präsentiren eines Gerichtes stolperte, sodaß von der überreichlich beladenen Schüssel mehrere Stücke Fleisch auf den Teller eines Tischgastes herabglitten. Der Betreffende, welcher neben der durch dies Malheur sichtlich beunruhigten Frau des Hauses saß, sagte ganz ruhig zu ihr: »Ich habe da doch etwas zu viel auf meinem Teller; ich bitte, Einiges auf die Bratenschüssel zurücklegen zu dürfen.« Und mit einer einem Ueber-Oberzeremonienmeister würdigen Gelassenheit ergriff er das große Besteck der Bratenschüssel und packte auf dieselbe angesichts der erleichtert aufatmenden Hausfrau von seinem Teller, von[41] dem er natürlich noch nicht gegessen hatte, zwei Stück Fleisch wieder zurück. Einen Fleck, der sich auf dem Tischtuch neben seinem Teller zeigte, deckte er – wie zufällig – mit seiner Menükarte liebevoll zu. Man darf annehmen: der Mann wird gewiß auch in wichtigen Dingen nie seine Fassung verlieren und stets sich und Anderen – wie im vorliegenden Falle seinen gastfreundlichen Wirten und noch mehr dem stolpernden »Johann« – zu helfen wissen. Durch ein Benehmen wie das eben geschilderte bekundet man jedenfalls mehr Taktgefühl, als zum Beispiel dadurch, daß man Spargel mit den Fingern oder sonstwie ißt.

Aber auch den eigenen Teller soll der Einzelne nicht zu sehr beladen; denn es ist schicklich, daß man das, was man sich auf einen Teller genommen hat, im Allgemeinen auch aufißt. Ich sage: »im Allgemeinen«; denn mögen Andere anders denken – ich scheue mich nicht, den Gesetzen der Etikette zuwider zu handeln, wenn ihnen nach meiner Ansicht wichtigere Interessen entgegenstehen, so die Rücksicht auf die Gesundheit. Wenn ich z.B. einmal erst nachdem ich mir von einer Speise genommen und bereits etwas davon gegessen hätte, merken sollte, daß[42] mir dieselbe direkt widersteht, so würde ich eben den Rest auf meinem Teller liegen lassen. Auf keinen Fall ist man durch Etiketterücksichten verpflichtet, aufzuessen, was Einem von anderer Seite vorgelegt wird, also wenn man in einfacheren Restaurationen das bestellte Gericht direkt auf dem Teller servirt bekommt, oder auch wenn Einem als Gast trotz des ablehnenden Dankes die Hausfrau selbst zu reichlich den Teller füllt, oder man z.B. einen übervollen Teller Suppe vorgesetzt erhält. Sich selbst seinen Teller mit Speise zu überladen, macht einen – gerade herausgesagt – gefräßigen Eindruck. Ein bis zum Rande gefüllter Teller sieht unästhetisch aus; wer auch in Aeußerlichkeiten als möglichst vornehm gelten will, der wird den lediglich zum Anfassen bestimmten Tellerrand stets von Speise unberührt lassen und auch Butter und Käse auf die Bodenfläche seines Tellers und nicht auf den Rand desselben streichen. Der Tellerrand hat ja doch seine erhöhte Form, um das Essen räumlich auf die Bodenfläche des Tellers zu beschränken. Beim Präsentiren der Schüsseln und namentlich der Saucièren sind dieselben so über den Teller des Tischgastes zu halten, daß kein seitlicher[43] Zwischenraum entsteht, um so ein Herabtropfen flüssiger Bestandteile von Speisen aufs Tischtuch zu verhindern. Wenn die Tischteilnehmer selbst diese oder jene Schüssel weiterreichen, so hat man darauf zu achten, den Nachbar nicht zu beunruhigen, sondern ihm erst eine Schüssel zu reichen, wenn er bereit ist, davon zu nehmen; also z.B. werde ich meinem Nachbar nicht gerade in demselben Moment die Kartoffelschüssel reichen, wo er dabei ist, von der ihm durch einen Diener präsentirten Fleischschüssel zuzulangen.

Anfrage: »Wie bringe ich die Serviette während des Essens an? Legt man die Serviette nach dem Essen zusammen?« – Während des Essens ist es in der vornehmen Welt am gebräuchlichsten, die Serviette ausgebreitet über die Knie zu legen. Auf diese Weise kommt die Serviette unterhalb der Tischplatte zu liegen, und man bekundet hiermit, daß man die Serviette ausschließlich zum Abwischen des Mundes beim Essen oder Trinken gebrauchen will und nicht auch als Schutzmittel gegen Beflecken der Kleidung. Gegen Letzteres ist eben der Muster-Formenmensch durch sein vorsichtiges Essen und Trinken gefeit. Das[44] Hineinstecken eines Zipfels der Serviette innerhalb des Kragens, um dadurch die obere Hälfte der Kleidung vor Flecken zu bewahren, gilt zwar als durchaus nicht besonders guter Ton; aber wem es so besser schmeckt, oder wer eben nur dadurch seine Körper-Umhüllung vor Flecken zu bewahren glaubt, der hülle seinen oberen Menschen getrost in einen leinenen Panzer, und ich rufe ihm von Herzen zu: »Gesegnete Mahlzeit!«; jedenfalls ist es taktlos, durch Worte oder Gebärden sein Mißfallen einem friedlichen Tischnachbar zu bekunden, welcher gegen diese oder jene Etikettenform verstößt.

Auf den zweiten Teil der Anfrage: »Legt man die Serviette nach dem Essen zusammen?« antworte ich: »Ja und Nein!« – »Ja« oder »Nein« könnte ich antworten, wenn ich wüßte, wer der Fragesteller ist, und wessen Gast er war. Man wird sich in dieser Sache – wie überhaupt in seinem Verhalten – den Wünschen seiner Wirte anpassen. Ist Jemand einmaliger Gast in einem vornehmen Hause von modernem Zuschnitt, so wird er nach dem Essen seine Serviette in losem Zustande auf das Tischtuch legen; denn durch ein sorgfältiges Zusammenfalten würde er den – schrecklichen! – Verdacht[45] bekunden: »Vielleicht wird die von mir benutzte Serviette auch noch ungewaschen zu anderweitigen Zwecken verwendet!« – Ist man längere Zeit oder auch nur für mehrere Mahlzeiten Gast eines Hauses, so wird man seine Serviette nach dem Essen wieder zusammenlegen, denn man will sie ja noch weiter benutzen; und wenn man es nicht selbst thut, wird die Serviette, die man doch zum eigenen Munde führt, von fremden Händen zusammengefaltet. Ein entschieden lobenswerter Standpunkt ist es, wenn man sich als Gast bemüht, den Wünschen seiner Wirte gemäß zu handeln.

Eine andere Frage: »Wie hält man den Löffel beim Suppen?« – Wenn man seine Manieren möglichst ästhetisch gestalten will, so wird man den Suppenlöffel mit der Breitseite, nicht mit der Spitze zum Munde führen; denn letzteres Verfahren macht größere Armbewegungen nötig, und das sogenannte »Herumfuchteln« mit Armen und Händen bei Tisch ist unschön. Geradezu eine Unsitte ist es, mit dem Besteck in der Hand – zumal wenn man mit demselben bereits gegessen – heftig herumzugestikuliren. Um Flecke auf dem Tischtuch zu vermeiden, soll man das Besteck stets über dem[46] Teller halten. Aus demselben Grunde gilt es auch als vornehmer, wenn man fertig gegessen hat, das Besteck auf dem Teller zu belassen. Doch wenn man sieht, daß die Hausfrau ihr Besteck neben den Teller legt, so folgert man daraus, daß man dasselbe Besteck auch zum nachfolgenden Gerichte benutzen soll, und man folgt – artigerweise – dem Beispiele der Hausfrau. Wenn man sein Besteck auf dem Teller läßt, so ist es Sitte, Messer und Gabel über einander auf die rechte Seite des Tellers zu legen, denn so liegt das Besteck am sichersten und bequemsten für den dienstbaren Geist, der Einen von gebrauchten Tellern und Besteck befreit; hierbei übrigens darf der Diener keinesfalls das Besteck, getrennt vom Teller, allein hinwegnehmen, um nicht durch die am Besteck haftenden Speisereste das Tischtuch oder die Tischgäste zu gefährden. Wenn ich zu einem Gericht das Messer überhaupt nicht benutzt habe, so werde ich natürlich beim Wechsel der Teller das Messer auf dem Tischtuche rechts vom Teller liegen lassen.

Wie schon erwähnt, ist es vor Allem schicklich, sich den Wünschen der Hausfrau zu fügen, und man macht sich unbeliebt, wenn man dieselbe[47] etwa auf ein vermeintliches Versehen aufmerksam macht. Wenn einem Herrn zuerst präsentirt wird, so soll er sich den Anordnungen der Hausfrau fügen und eben zuerst nehmen und nicht erst seine »kolossale Formenkenntnis« durch banale Redensarten bekunden wollen, wie etwa: »Aber ich kann doch wohl nicht vor den Damen nehmen!« – Du kannst dies, schüchterner Jüngling, ruhig wagen – ohne vorher mit Phrasen zu paradiren; denn Mut zeiget bekanntlich auch der Mameluck, aber Gehorsam, Gehorsam gegen die Anordnungen der Hausfrau, sei bei Tisch nicht nur des Christen, sondern auch des Juden erster Schmuck![48]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 38-49.
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