An den Grenzen ...

[20] Ein gewagtes Thema – schwer zu be-, noch schwerer zu umschreiben. Wie weit geht die Dame des zwanzigsten Jahrhunderts?

Wenn wir von den bisher besprochenen Eigenschaften den Instinkt, die Vornehmheit, das undefinierbare Lächeln, die Erfahrung und das »Über-der-Situation-Stehen« in unserer Dame vereinigen –, dann kann sie immerhin recht weit gehen, dann hat sie die Grenzen nicht zu fürchten und wird sich sicher mit der richtigen Taktik ihnen nähern.

Überall sind Grenzen, sie umlauern uns auf Schritt und Tritt, mitunter bemerkt man es gar nicht mehr. Und sind es im Augenblick keine, so können es im Handumdrehen solche werden. Hunderte von Fragen tauchen in aller Schnelligkeit auf:

Darf man einen Junggesellen in seiner Wohnung besuchen, darf man auf Ski- und Autotouren allein mit seinem Begleiter im Hotel absteigen, darf man bis spät in die Nacht zu zweit in Lebelokale aller Art gehen, darf man in unpassende Stücke, Filme oder gar – – das tut ja hier nichts zur Sache, kurzum, darf man dort, hier und da allein, mit Begleitung oder überhaupt gesehen werden?

Die innere Sicherheit entscheidet! Wer erst schwankt: »Ob ich wohl, wenn aber, mein Himmel, was würde jene denken ...« dann begebe man sich schleunigst aus dem Gebiet der Grenzen, dann fliehe man es, dann überlasse man diese Gefahren anderen, bleibe man brav bürgerlich innerhalb der selbstgezogenen Kreise! – Eine ganz große Dame braucht die Grenzen, scheut nicht das Spiel mit dem Feuer und weiß mit Bestimmtheit, daß sie alledem »grenzen«los überlegen ist![20]


Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 20-21.
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