Gibt es eine Unmoral des Kostüms?

[40] Der Begriff ist individuell – die Wirkung definierbar. Gegebene Tatsachen lösen Gefühle, Stimmungen, Ansichten aus, welche zu Auseinandersetzungen Anlaß geben.

In der Loge, auf dem Sportplatz, im Autobus und im Ballsaal hört man immer wieder Aussprüche wie: »Frau v. Z. hat aber einen Rückenausschnitt, welcher mehr als ...«, »So ein anliegender Sporttrikot wirkt immer anständig ...«, »Bei der Figur von der Geheimrätin würde ich lieber ...«, »Die Mode in Ehren, aber das kurze Kleid Ihrer Tochter ist einfach empörend!«

Jeder widerspricht sich, so gut er kann! Italien geht energisch gegen die ausgeschnittenen Nouveautés und phantastischen Schleiergebilde von Chanel, Patou und Poiret vor, der Duce wünscht eine eigene Landesmode, währenddessen knien in andächtiger Versunkenheit die tief dekolletierten Principessas und Contessas, ihrem höchsten Herrn zu Ehren, vor den weihrauchumwobenen Altären, ohne ihre Gewandung aus der Seinestadt auch nur im geringsten zu berücksichtigen oder zu ändern. Entgegnen sie doch, bezüglich aller kürzlichen Mahnung – schwer widerlegbar: »Zu einem Besuch[40] bei dem höchsten Gebieter ziehen wir uns festlicher an, als wenn man zum König geladen ist ...!«

Die gestrengen Väter einer älteren Generation widersetzen sich stirnrunzelnd, kopfschüttelnd den modischen Gesetzen eines neuen Jahrzehnts. Sie verwerfen die unsittliche Kürze der Kleider, die jungenhafte Frisur des Etonkopfes, die seidige Nonchalance koketter Wäsche – sie demonstrieren gegen die Vermännlichung der Frau und sportive Losgelöstheit ihres Körpers, verweisen auf den sittlichen Geschmack vergangener Jahrhunderte.

Werfen wir jetzt einen Blick in die allbekannten Tanz- und Gymnastikschulen – Loheland, Wigman, Laban und Menzler. Kommen uns beim Betrachten der kaum bekleideten Mädchenkörper unsittliche Gedanken? Im Gegensatz dazu steht die sittengestrenge Gewandung einer »galanten Zeit« – die Taille mit den hundert kleinen, schwierigen Haken und Öfen. Stand die damalige Moral höher als unsere heutige?

Beispiele sprechen für sich. Obwohl das vorschriftsmäßige Crêpe-de-Chine-Bubinachthemd der eleganten Lady angezogener und stoffreichhaltiger ist als die große Abendtoilette, kommt sich die Trägerin eines solchen nächtlichen Überwurfes hüllenloser vor als die dreiviertel unbekleidete Jazztänzerin bei ihrem obligaten Mondscheinflirt.

»Wenn viele auch dasselbe tun – so ist es nicht dasselbe!« Der anmutige scharmante Mannequin in der aparten Schöpfung der prophetischen »haute couture« dürfte seelenruhig und größter Erfolge gewiß in seinem vorgeführten Modell bei dem nächsten besten Galadiner auftauchen – während des die den Modegesetzen nachjagende, zwei Zentner schwere Gattin eines »nouveau riche« in demselben Kostüm nur wenig Anklang finden, aber viel Aufsehen erregen würde.

Die Moral des An- und Ausziehens liegt im wesentlichen in der Absicht, in der die Kleider getragen oder – nicht getragen werden. An und für sich gibt es keine »unsittliche Kleidung« und keine »Unmoral des Anzuges«. Die Wirkung hängt lediglich von dem Zweck der Trägerin ab in Zusammenhang mit Umgebung, Machart, Farbe und Musik. Das Hervorhebenwollen des Übererotischen ist ausschlaggebend in diesen immer wieder prekären Fragen des Alltags.[41]


Gibt es eine Unmoral des Kostüms

Quelle:
Reznicek, Paula von: Auferstehung der Dame. Stuttgart 7[o.J.], S. 40-42.
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