Abenteuerliche Reise von Amsterdam über Utrecht usw.

[187] Mein guter Schweizer wanderte in Gedanken vertieft neben mir her bis zum Tore hinaus, wo er mich frug, welchen Weg wir einschlagen wollten. – »Den nächsten besten«, war meine Antwort. – »Nun, da gehen wir nach Utrecht, wo ich vielleicht wieder zu Reisegeld komme, denn meine Barschaft ist gewaltig zusammengeschmolzen!«

Nachdem wir, unter allerhand Gesprächen, eine Zeitlang am Ufer fortgegangen waren, kamen wir an ein Haus, wo ich mir etwas zu trinken ausbitten wollte. »Das wage ich nicht«, sagte mein Gefährte, »denn das Ansprechen[187] könnte uns schlecht bekommen.« – »Ei was«, sagte ich, »da wag ich es«, ging an die Haustür, klopfte an und rief: »Frau Base!«

Gleich darauf trat eine ansehnliche Frau heraus und frug: »Wat beleeft ju, mien Heer?« – »Ek bet ug um een maal to trunken!« – Sie erwiderte freundlich: »Je weel, mien Heer«, ging ins Haus, kam bald darauf mit einer Bouteille Bier und einem Butterbrote zurück, überreichte mir beides und frug weiter: »Wo sun ju van dannen?« – Ich nannte ihr mein Vaterland und überreichte ihr meinen Paß und einige in französischer und englischer Sprache abgefaßten Abschiede. Indem sie dieselben durchlas, frug sie mich auf französisch: »Savez-vous parler françois?« – »Très peu, Madame«, war meine Antwort, »mais mon camerade de voyage parle très bien cette langue; je vais le chercher.«

Die günstige Aufnahme, die ich gefunden hatte, machte, daß er mir willig folgte und bei der freundlichen Frau zum Dolmetscher diente. Wir mußten uns beide nun bei ihr niederlassen, und sie trug uns auf, als ob wir ihre besten Hausfreunde wären. Endlich überlas sie noch einmal meinen Paß und sagte darauf: vor einigen Jahren hätte ihr Mann, welcher Schiffer wäre, einen Mann gleiches Namens wie mein im Passe bezeichneter Vetter mit nach Batavia genommen; ob dieser vielleicht mein Vetter gewesen sei. Hierauf nannte ich ihr die Gracht, an welcher mein Vetter in Amsterdam gewohnt habe, woraus sich ergab, daß mein Vetter wirklich mit ihrem Manne die Reise nach Batavia gemacht hatte. »Ei«, sagte die Frau, »warum sind Sie doch nicht vierzehn Tage früher zu mir gekommen, so hätte Sie mein Mann mit nach Batavia nehmen können, denn er ist erst vor zwölf Tagen wieder dahin unter Segel gegangen!«

Sie fuhr darauf fort und frug mich, zu welcher Religion ich mich bekenne, und als ich ihr antwortete: »Je suis Lutherien ou Protestant«, erwiderte sie: »Moi aussi«, griff in ihre an der Seite hangende silberne Kneiptasche[188] und gab mir eine ganze Handvoll Stüber, welche beim Nachzählen über fünf holländische Gulden betrugen. Doch dabei ließ sie es nicht bewenden, sondern sagte zu mir, ich möchte bis zur Wiederkunft ihres Mannes bei ihr bleiben und dann auf der folgenden Reise mit ihm nach Batavia zu meinem Vetter abgehen. Dieser Antrag stand mir nicht übel an; als mir aber der Schweizer abriet, so versprach ich ihr, wiederzukommen, sobald ich meine Angelegenheiten zu Hause in Ordnung gebracht hätte! Ich mußt es ihr mit einem Handschlage versprechen, worauf sie mich mit dem Schweizer entließ, dem sie für seine Dolmetscherei beim Abgange gleichfalls einen Gulden schenkte, worüber dieser eine unbeschreibliche Freude hatte und nicht müde wurde, die Freigebigkeit dieser Holländerin zu erheben. In der Tat ist dies eigentlich eine Nationaltugend der Holländer, welche sich jedoch mit der Zeit vermindert hat, weil sie zu oft gemißbraucht worden war.

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 187-189.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
Der deutsche Gil Blas. Eingeführt von Goethe. Oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers