Abreise mit dem Vater nach dem

angeblich gelobten Lande

[21] Kaum hatten wir uns von den Strapazen unsrer ersten Reise erholt, so mußten wir schon wieder unsre Reisepäckchen schnüren, welche diesmal weit größer und schwerer wurden. An einem heißen Julimorgen des Jahres 1772 nahmen wir zum zweiten Male von unsern Geschwistern und unsrer trostlosen Mutter mit tränenden Augen Abschied und wanderten an der Seite des Vaters unsrer neuen Heimat zu. Um uns zu zerstreuen, war derselbe sehr gesprächig und spiegelte unsrer jugendlichen Einbildungskraft liebliche Szenen der Zukunft vor.

Auch kam er auf die Vergangenheit zurück und erzählte uns unter andern, daß er im Siebenjährigen Kriege als hannöverscher Proviantkommissär außerordentlich viel erworben, aber alles auf einmal wieder verloren hätte. Er hätte nämlich Auftrag erhalten, einige Oxhoft Wein, welche man bei Hameln dem Feinde abgenommen, unter[21] die Truppen zu verteilen. Da es ihm zu beschwerlich gewesen wäre, eine ganz mit Gold gespickte Katze um den Leib mit sich herumzutragen, so hätte er sie in dem Hintergrunde seines Zeltes in die Erde vergraben. Als er es nach vollendetem Geschäft wieder ausgraben wollen, habe statt der Katze voll Gold ein Stein an der Stelle gelegen. Ferner habe er bei Thamsbrück ohnweit Langensalza eine beträchtliche Lieferung von Fourage auf eigne Rechnung durch die Feinde verloren, wodurch sein Vermögen den härtesten Stoß erlitten hätte. – Dergleichen trauliche Erzählungen aus dem Munde unsers Vaters gegen uns waren uns nichts Neues, doch flößten sie uns Vertrauen auf seine Versicherung ein, daß die zu Tietelsen angekaufte Meierei durch Anlegung einer Stärkenmanufaktur, Brennerei, Mast und dergleichen daselbst ihm größere Vorteile als das beste Baurengut anbiete, daß ihm die Sonne des Glücks daselbst gewiß aufgehen und alles wieder ersetzen würde, was er verloren habe. Kaum konnten wir die Zeit erwarten, dieser Glückssonne nahe zu kommen; mutig ertrugen wir Sonnenhitze, Hunger und Durst, bis wir Karlshafen erblickten, in dessen Nähe unser künftiges Paradies sein und daselbst Milch und Honig fließen sollte.

Vor Karlshafen mußten wir uns umkleiden, waschen, kämmen und unsern Sonntagsstaat anlegen, in welchem wir darauf dem Herrn Gastwirte Kümmel, den wir schon kannten, vorgestellt wurden. Wir alle wurden freundlich von ihm und seiner Frau bewillkommt, welche uns, während sich mein Vater mit ihrem Mann unterhielt, eine Kammer anwies, um darin unsre Reisepäckchen abzulegen.

Nachdem wir uns etwas erholt und gesättiget hatten, sahen wir uns in der Stadt und in der Gegend um, die wegen der mit Walde bewachsenen Berge, zwischen welchen die Weser dahinfließt, und wegen verschiedener alter Burgruinen über der Weser recht angenehme Ansichten darbietet.[22]

Kaum waren uns unter solchen Zerstreuungen einige Tage verflossen, als mein Vater uns erklärte, daß wir uns nun selbst unser Brot mitverdienen müßten. Damals war ich zehntehalb und mein Bruder kaum acht Jahr alt.

Unser Herr Wirt trieb starke ökonomische Geschäfte, Brauerei und Branntweinbrennerei, und hatte auch Geschäfte bei der Saline; in all diesen Zweigen stand mein Vater ihm hülfreich bei, weshalb er oft acht bis vierzehn Tage für ihn abwesend sein mußte. Außer mancherlei häuslichen Verrichtungen, die man uns zuteilte, mußten wir während der Heuernte mit an die Hand gehen, nach des Vaters Anleitung Fische in der Weser fangen und allerhand Waldbeere[n] eintragen, welche dort in Menge wuchsen.

Waren wir fleißig gewesen, so bekamen wir dafür täglich einen Weißpfennig, oder neun Pfennige, zum Lohn, welchen wir, bei manchmal sehr spärlicher Kost, uns zu Spielgelde sparten, das wir sonntags mit den Jungen der Nachbarschaft vertaten, denen unser thüringischer ländlicher Dialekt ebenso komisch als uns ihre plattdeutsche Mundart klang, welche wir unter ihnen bald verstehen lernten.

Den Sommer über hatten wir mehr gute als böse Tage daselbst verlebt. Aber als nach Michaelis die Witterung rauher wurde und meines Vaters Verdienst abnahm, da begannen auch unsre Trauertage. Eines Tages, wo die Witterung äußerst ungünstig war, wurden wir von dem Vater mit den Angeln ausgesandt; all unsre Mühe war und blieb vergebens, wir mochten ächzen, beten, seufzen, weinen, so fingen wir doch keinen Fisch und mußten, von Kälte erstarrt, nach Hause zurücke kehren. Der Vater, der schon seit einigen Tagen sehr mißlaunig war und auf einen guten Fang gerechnet hatte, wurde über unser langes Außenbleiben und darüber, daß wir nichts mitbrachten, so jähzornig, daß er wütend über uns herfiel und uns auf das unmenschlichste mißhandelte. Er würde uns zu Krüppeln geschlagen haben, hätte sich Herr Kümmel[23] nicht unsrer barmherzig angenommen und meinem Vater ernstlich ins Gewissen geredet. Die Folge davon war, daß ich einige Wochen lang krank blieb, wo ich keinen Trost als den der sorgfältigsten Pflege und Wartung meines guten Bruders hatte, welcher mit der innigsten Liebe an mir hing. O warum mußt ich ihn so früh verlieren!

Quelle:
Sachse, Johann Christoph: Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers. Von ihm selbst verfasst, Berlin 1977, S. 21-24.
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Der deutsche Gil Blas oder Leben, Wanderungen und Schicksale Johann Christoph Sachses, eines Thüringers
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