Körperliche Erziehung.

[34] Die Erziehung ist die wichtigste Aufgabe des Menschen. Die meisten Eltern sind der Meinung, daß die Erziehung in Schelten und Bestrafen bestehe und erst beginne, wenn das Kind älter ist und der Verstand zur Entwicklung kommt. Die Erziehung beginnt mit der Geburt. Das neugeborene Kind ist noch kein vollendeter Mensch; es soll erst ein solcher werden, zu einem solchen heranwachsen. Dieses Wachsen ist ein Wachsen an Stoff und Kraft. Die Kraft ist an den Stoff gebunden. Das Maß der Kraft ist durch die Beschaffenheit des Stoffes bedingt. Das Maß der Kraft, sowohl des Körpers als des Geistes ist bei den einzelnen Menschen von der Geburt an sehr verschieden. Der Zweck der Erziehung ist, diese angeborenen Kräfte des Geistes und des Körpers zu steigern und zu bilden. Die Steigerung oder das Wachstum der Kraft wird durch die Ernährung des Körpers, die Bildung der Kraft durch die Übung des Körpers und Geistes erreicht. Doch ist die Übung auch insofern eine notwendige Bedingung der Kraftsteigerung oder der Förderung des Wachstumes, als ohne die Übung des Körpers (Muskeln, Lunge, Gehirn etc.) eine vollkommene Ernährung nicht stattfinden kann. Körper und Geist bilden ein Ganzes. Das Wachstum des Körpers durch Ernährung fördern, heißt auch den Geist fördern. Mens sano in corpore sano. Werden nun auch beide gemeinschaftlich ernährt, so sind sie doch in bezug auf die Bildung oder Übung voneinander getrennt. Jeder Teil hat seine ihm eigentümliche Ausbildungsweise. Die Bildungsfähigkeit und das[34] Bildungsziel des einzelnen Menschen sind begrenzt durch seine natürlichen Anlagen. Allerdings läßt sich durch Übung viel erreichen. Das Mehrwollen führt zum Ruin des Körpers und auch des Geistes; denn zwischen beiden besteht eine Wechselwirkung. Leidet der Körper, so leidet auch der Geist und umgekehrt. Anforderungen an Körper und Geist müssen in erster Linie der Naturanlage, der Kraft und dem Alter entsprechen. Die Hauptmittel für die Entwicklung von Körper und Geist sind also Ernährung und Übung.


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 34-35.
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