Verstellung und Anstellung.

[3] Verstellung ist es, wenn man das zu verbergen sucht, was in unserm Innern vorgeht, Anstellung, wenn man einen Zustand simuliert, der bei uns nicht vorhanden, und es ist zweifellos, daß zu einem erlaubten Zwecke auch die Verstellung oder Anstellung erlaubt sind, obwohl wir uns von vornherein dagegen verwahren wollen, dem Grundsatz: »Der Zweck heiligt die Mittel«, das Wort zu reden.[3]

Wo man also durch die Verstellung etwas verschweigt, da redet man durch die Anstellung, und die jedesmaligen Umstände sind entscheidend, oh die eine oder andere angewendet werden darf, ja es gibt Fälle, in denen das Geheimhalten unseres Innern, also die Verstellung aus Gründen der Tugend, der Wohlanständigkeit, ja auch der Selbsterhaltung nicht allein erlaubt, sondern sogar geboten ist.

Wird nicht z.B. der Arzt, welcher einen Schwerkranken zu behandeln hat, die Gefährlichkeit des Zustandes der Familie deßelben, wenn es irgend tunlich, verschweigen? Würde nicht die Familie in ihrer Angst ganz den Kopf verlieren und an der Pflege etwas vernachlässigen? Ja, würde nicht sogar, wenn dieses zu den Ohren des Kranken dringen sollte, die Nachricht durch ihr jähes Eintreffen eine Verschlimmerung der Krankheit herbeiführen? Hier ist die Verstellung also nicht allein erlaubt, sondern sogar notwendig.

Anders aber würde die Sache liegen, wenn der Arzt sagte: »Es ist durchaus nicht schlimm, ängstigen Sie sich nur nicht, es ist ein augenblickliches Leiden, welches schnell wieder vergeht!« Das ist nicht mehr das Verschweigen eines Zustandes, also keine Verstellung, sondern eine offenbare, wenn auch gutgemeinte Lüge. – Mag der Arzt es nachher mit seinem Gewissen verantworten, wenn man der Krankheit eine weniger große Bedeutung beigelegt und dieses eine Katastrophe herbeigeführt hat!

Wird nicht der Kaufmann, welcher einen geschäftlichen Verlust erlitten, es jedem zu verbergen suchen, wie schwer ihn dieser drückt? Denn das steht außer allem Zweifel, daß beim Bekanntwerden dieser Tatsache mancher seiner Geschäftsfreunde mit der Gewährung des Kredits innehält. Dadurch würde aber der ganze Gang seines Geschäfts gestört werden und Kalamitäten von unberechenbarer Ausdehnung sind die unabänderliche Folge.

Wiederum ist es auch hier leicht möglich, die Grenze des Erlaubten zu überschreiten, denn wenn der Betreffende z.B. sagen würde: »Bei meinen eminenten Reichtume ist dieser kleine Verlust wie ein Tropfen, der aus einem Flusse geschöpft wird, das Entnommene strömt in derselben Minute[4] aus der Quelle wie der hinzu!« – so ist das mindestens eine Prahlerei, die sich nicht allein schlecht anhört, sondern die auch geradezu das Moment des Betruges involvieren würde, wenn sie eben dazu angewendet wird, einen sonst eventuell verweigerten Kredit zu erringen.

An diesen beiden, dem bürgerlichen Leben entnommenen Beispielen glauben wir zur Genüge gezeigt zu haben, wo die Verstellung erlaubt ist. Anders verhält es sich mit der Anstellung.

Manche werden vielleicht denken: »Ja, ist denn die Anstellung, d.h. die vorsätzliche Simulierung eines Zustandes, überhaupt eine erlaubte Sache? Die Verstellung wollen wir als solche gelten lassen, aber ist die Anstellung nicht eine absichtliche Täuschung, ein Falsum, das als unentschuldbar gilt?«

Wird nicht ein reicher Mann seinen unerwachsenen Kindern gegenüber ganz vernünftig tun, ihnen direkt zu sagen: »Ich bin nicht so reich, wie ihr euch denkt!« damit diese nicht, sich auf das Vermögen ihres Vaters verlassend, vom Dünkel befallen in Trägheit versinken und die Bildung ihres Geistes, die Erlernung eigener Erwerbstätigkeit vernachlässigen, weil sie glauben, das Mangelnde durch ihren später zu erwartenden Reichtum ersetzen zu können?

Diese Anstellung, die direkt ausgesprochene Unwahrheit seitens des Vaters, geschah in guter Absicht und konnte den Kindern keinesfalls schaden, weshalb sie ganz entschieden zum Erlaubten zu zählen ist.

Aber auch hier hüte man sich davor, zu weit zu gehen. Es würde ein schwer zu verantwortendes Unrecht sein, wenn der Vater seinen Kindern das entziehen wollte, was anderen Kindern gleichen Standes gewährt ist. Sie würden gewissermaßen diesen Mangel, welcher sie zwingt, hinter ihren Jugendgenossen zurückstehen zu müssen, schmerzlich empfinden.

Wir wollen hier gleich noch einer Ansicht entgegentreten, welcher man zuweilen in gewissen Kreisen begegnet, es ist nämlich die Meinung, daß die ganzen Regeln des Anstandes, der Höflichkeit und Artigkeit, mit einem Wort die Convenienz[5] selbst, bei den meisten Leuten, welche sie befolgen, reine Anstellung sei.

Schon sagten wir, daß diese Ansicht nur in gewissen Kreisen herrscht und wir glauben »gottlob« dazu sagen zu können, denn es ist außer aller Frage, daß wohl allen Gebildeten ein natürliches Taktgefühl in Fleisch und Blut übergegangen ist, ein schönes Zeichen der Veredelung des nationalen Charakters.

»Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt«. Auch in der Convenienz kann man zu weit gehen.

Ist es z.B. ein Gesetz der Artigkeit, seinen Besuch bis zur Tür zu begleiten und allenfalls sich beim Scheiden die Ehre eines neuen Besuches auszubitten, so mag dieses genügen. Der Gast wird an Art und Weise, wie er aufgenommen worden ist, schon erkennen, ob ein zweiter Besuch seinem Gastgeber wirklich erwünscht ist, oder ob die wiederholte Einladung nur Phrase war, und man möglicher Weise sich dabei etwas direkt Gegenteiliges gedacht haben mag.

Wird dann aber, in mangelnder Erkenntnis der Phrase als solche, ein zweiter Besuch gemacht, so wird der Gast schon durch die Aufnahme, welche er findet, zu der Einsicht gelangen, daß er sich hat täuschen lassen und um eine Erfahrung reicher nach Hause gehen.

Darum sehe man sich vor, daß man sich nicht durch Verstellung oder Anstellung täuschen lasse, denn nicht jeder ist so gewissenhaft, solche nur da anzuwenden, wo sie wirklich erlaubt sind.

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 3-6.
Lizenz:
Kategorien: