Dresdener Maitage 1849.

Als unsere Privatschule in der kleinen Brüdergasse nach dem Maiaufstand ihre Pforten wieder öffnete, hatte ich eine politische Vergangenheit hinter mir. – Die gewaltigen Märztage von 1848 hatten das gemütliche Dresden in eine Erdbebenstadt umgewandelt, deren heißer, vulkanischer Boden nie geahnte Zustände aufschießen und zur Blüte kommen ließ. Vereine wuchsen wie Pilze aus der Erde; der demokratische, der republikanische, der Vaterlandsverein überboten sich in Proklamationen, die die Straßenecken in kunterbunte Gewänder kleideten. Alle Tage gab es Versammlungen, Aufzüge, Wahlen, Durchmärsche von Freischärlern, die nach Schleswig-Holstein zogen; es wurde viel geredet, gesungen, getrunken und getoastet; die Stadt war fast immer im Flaggenschmuck; kein Mensch ging über die Straße ohne Kokarde am Hut oder im Knopfloch – schwarz-rot-gold, grün und weiß oder blutrot – jeder wollte und mußte Farbe bekennen. Wie die Alten sungen, so zwitscherten die Jungen; wir machten nach, was uns vorgemacht wurde, eine Kokarde oder die rote Feder, zierte die Schülermütze, die Gesinnungen der Vater spiegelten sich in den Söhnen wieder. Wenn die Volksstimme im Chorus laut wurde, daß die Wolken bebten, unsere Soprane schwebten über den Bässen und Tenören. – Das königliche Hoftheater stellte mehrere Häupter an die Spitze der Bewegung. Richard Wagner, der mit dem »Fliegenden Holländer« und »Tannhäuser« die musikalische Welt schon revolutioniert hatte, sprang gemeinschaftlich mit dem genialen Erbauer des Hoftheaters, Gottfried Semper, in den Freiheitsstrudel,[17] daß die Wellen über ihren Köpfen zusammenschlugen, von denen beide an das rettende Ufer der Schweiz gespült wurden. Populärer als die Genannten, war der königliche Musikdirektor Röckel, der ein demokratisches Volksblatt herausgab, um das man sich bei der Ausgabe, gegen Abend die Köpfe blutig schlug. Röckels blauer Rock, in dem er den Landtag, zum Entsetzen der üblichen schwarzen Fräcke und weißen Halsbinden; besuchte, rief eine nie dagewesene Aufregung hervor. Der blaue Rock wurde durch die Spalten der Lokalblätter geschleift, als ob er mit Druckerschwärze reglementsmäßig gefärbt werden müsse. Im Zuchthaus zu Waldheim, wo der Ärmste fünfzehn Jahre Wolle spann, mußte er den Blauen mit dem Sträflingskittel vertauschen. Mein Vater, ein Mitglied des Hoftheaters in kleiner Stellung, der den Nachtwächter in den »Hugenotten« sang und in »Faust« bei dem Spaziergang vor dem Tore, seine Unzufriedenheit über den neuen Bürgermeister aussprechen durfte, folgte den Fortschrittsbeinen seiner Vorgesetzten, wenn auch mit kleineren Schritten. Das hatte Rückwirkung auf mich, den Dreizehnjährigen; ich durfte Turner werden, Gedichte von Herwegh und Freiligrath lesen, zerbrach mir den Kopf über politisch-satirische Witzblätter, die ich nicht verstand, wurde auch hin und wieder in eine Versammlung mitgenommen und suchte eigenmächtig allen Ereignissen beizuwohnen, die sich so häufig auf der Straße oder vor der Stadt unter freiem Himmel abspielten. Welche Luft gewährte es, die Kommunalgarde, eine krähwinkliche Bürgerwehr, im großen Gehege exerzieren zu sehen. Wenn ihre Tamboure, die monströsen Trommeln rührend, durch die Straßen zogen und damit die Gardisten zum Sammelplatz riefen, dann traten aus dem Dunkel der Haustore die Heldengestalten mit weißen Hosen hervor (denn die Kommunalgarde war eigentlich nur ein Sommermilitär, das, wenn es ja einmal bei Frostwetter zusammengetrommelt wurde, in beliebigen Winterbeinkleidern antrat) eingeknöpft waren sie in einen langen blauen Rock –[18] das Blau war Vorschrift, aber es erschien in allen Schattierungen, denn die Uniform wurde im gewöhnlichen Leben auch als Sonntagsrock getragen – das weiße Lederbandelier, an dem eine riesige Patronentasche hing, kreuzte sich auf der Brust mit dem Säbelgehänge; auf dem Kopfe balancierte ein hoher Tschako, der an die Zeiten der Befreiungskriege erinnerte; das klirrende, klappernde Gewehr, mit dem mörderischen Bajonett und dem oft versagenden Feuersteinschloß, wurde von dem ältesten Sohn, oder dem Lehrling, dem Gardisten bis auf die Gasse nachgetragen. An die Patronentasche und Säbel klammerten sich die Jüngsten, und wenn das eheliche Verhältnis ein gutes war, gab es ein zärtliches Abschiednehmen unter der Haustüre, wie zwischen Hektor und Andromache. Wir Jungen ließen es bei den Leistungen der Kommunalgarde an Kritik nicht fehlen, wenn ein Rottenfeuer abgegeben wurde, das wie ein Schuß klingen sollte, aber wie gewöhnlich mißlang, daß man bei dem Geknatter denken konnte, es würde gedroschen, dann höhnten und ätschten wir so lange, bis der Herr Hauptmann Mickedanz oder der Herr Leutnant Zickelschwanz mit finsterer Miene und gezogenem Säbel einige Schritte gegen uns losging, da rissen wir aus, formierten selbst unsere Bataillone und marschierten stampfend heimwärts. Die Revolution vom Jahre 1830 hatte der Kommunalgarde das Leben gegeben, der Maiaufstand von 1849 machte ihr den Garaus.

Der Völkerfrühling hatte üppige vielversprechende Blüten getrieben, aber der Fruchtansatz entsprach den gehegten Hoffnungen nicht, schon im Sommer fielen grüne unreife Früchte vorzeitig ab, der Herbststurm aber fuhr in den jungen Freiheitsbaum, daß die Äste krachend stürzten. Wien fiel – Robert Blum wurde erschossen, Sachsen größter Volksmann. Eine Totenfeier wurde ihm in der Dresdener Frauenkirche veranstaltet, wie Elbflorenz noch keine gesehen. Ein endloser Zug hatte sich gebildet, der nach und nach die ganze Kirche füllte. Mit Verwunderung sah man in den Reihen des trauernden[19] Volkes, zehn bis zwölf Mann der königlichen Leibgarde, die der alten napoleonischen Garde nachgebildet war, unter den massigen Bärenmützen, mit dem Flor um den Arm, einhermarschieren. Also bis in die Leibwache des Königs waren die Freiheitsideen eingedrungen! Zwei Monate später wurde die Garde aufgelöst und ihre Mannschaft anderen Regimentern zugeteilt. Aber auch Chaisenträger waren im Zuge zu sehen, die lebenden Wahrzeichen von Alt-Dresden, die Überbleibsel aus dem Rokoko, der versteinerte Zopf. Mit diplomatischer Schlauheit liefen sie als Botengänger auf Amors Wegen; mahnten säumige Zahler mit zäher Ausdauer und hanebüchener Grobheit; wenn ein Gläubiger dem Schuldner mit der letzten Drohung kam: ich werde Sie durch den »Bordscheesendräger« mahnen lassen – dann gab es Grund zu zittern. Sie überbrachten aber auch an Familienfesten, in Uniform, Gratulationen, Geschenke und Blumen, trugen in der Chaise mit kurzen Schritten alte Hofdamen zur Kirche, Theater oder Festen, schnitzten in ihren Wartestuben Vogelhäuschen oder strickten blaue Strümpfe. Ihre Devise war: umsonst ist der Tod. Und diese Chaisenträger (allerdings nur die vom Rathaus und der Neustadt; die Schloß-Chaisenträger hielten es mit dem Hof, blieben ferne und strickten am Trauertag demonstrativ blaue Strümpfe), sie trauerten um einen Freiheitsmann, machten einen Gang ohne Entlohnung! Das war das alte Dresden nicht mehr, die Zeit ging aus den Fugen; was mochte da noch bevorstehen? Eine düstere Prophezeiung tauchte plötzlich auf und ging von Mund zu Mund. Der alte Schäfer Thomas hatte sie ausgesprochen, ein Mann, von dem kein Mensch wußte, wo er seine Schafe hütete. Aber es war gewiß, er hatte prophezeit: im Jahre 1847 mag ich kein Apfelbaum sein, 1848 kein Fürst und Adeliger, 1849 kein Soldat und 1850 kein Totengräber. Die Prophezeiung für die beiden ersten Jahre hatte sich erfüllt, nun konnten Krieg und Umsturz, Mord und Totschlag den letzten nicht fehlen. Mann übersah,[20] daß die Verkündigung für 1847 eine Rückwärtsprophezeiung war (die Apfelernte hatte solche Früchte gebracht, daß die Jugend allein damit nicht fertig werden konnte und die Schweine zur Vertilgung herangezogen werden mußten), übersah, daß wir 1848 in leicht enträtselter Gegenwart lebten, und daß es eine persönliche Geschmacksache des Schäfers Thomas sei, wenn er weder Soldat noch Totengräber sein mochte, nicht nur für 1849 und 1850, sondern für alle Zeiten. Aber man wollte schwarz sehen und glaubte eine Berechtigung dafür zu haben, denn der Freiheitshorizont verdunkelte sich zusehends und die Reaktion zog Siebenmeilenstiefel an. Den ganzen Winter gärte es, doch zum Ausbruch kam es nicht; eine Revolution braucht schönes, warmes Wetter zu ihrem Gedeihen. Als der Frühling kam, war der Geduldsfaden dünn geworden, die Spannung zwischen Volk und Regierung unerträglich; es klang nicht mehr wie eine Prophezeiung, sondern wie eine Gewißheit, wenn die Leute sagten: paßt auf, nun geht's bald los! Es lag etwas in der Luft, als wir Schüler uns am Morgen des 3. Maien zum Unterricht versammelten. Ich konnte der Partei die wichtige Mitteilung zuraunen: heute geht's los! Meine Nachricht stammt aus guter Quelle, der Schmied in unserem Hause hatte es mir durch das Fenster zugerufen, als ich den Schulweg antrat. Heute geht's los! Die Gedanken der Lehrer und der Lernenden waren den ganzen Vormittag mehr auf der Straße, als bei dem Lehrgegenstand, denn von unten drang ein dumpfer Lärm herauf, stärker als gewöhnlich. Die letzte Stunde, der französische Unterricht, mußte entfallen, weil der Sprachlehrer, Monsieur Senin, ausgeblieben war, ausgeblieben ohne Entschuldigung. Das war ein Ereignis, denn Monsieur Senin, pünktlich wie die Sonne, trat sonst auf die Minute und mit militärischer Strammheit in die Schulstube. Er war noch nicht lange unser Lehrer, wir liebten und fürchteten ihn, aber wir lachten auch über ihn. Er war ein Original, grundverschieden von allen anderen Lehrern. Senin wurde[21] importiert, weil der frühere Sprachmeister, ich glaube, er hieß Baier, uns den Pariser Akzent nicht beibringen konnte. Wenn man Baier heißt und einer Schar Dresdner Jungen die französische Sprache eintrichtern soll, kann kein Pariser Akzent herauskommen, wir hatten den kleinen »Brüdergassen«-Akzent, von dem wir uns nicht trennen konnten. Als Monsieur Senin vom Direktor der Klasse vorgestellt wurde, waren wir baff, wir brauchten Zeit, bis sich die Augen an die ungewöhnliche Erscheinung gewöhnten. So etwas gab es gar nicht, das lief nicht einmal auf der Straße herum, und das sollte nun unser Lehrer sein! Zugeknöpft war es bis an den Hals in einen schwarzen Rock, aus dessen Kragen spitze, wehrhafte Vatermörder herausragten, die, von einem schwarzseidenen Tuch umschlungen, einen bronzierten Kopf stark hervortreten ließen. Welch ein Kopf! Ein scharfgeschnittenes Profil mit einer sich breitmachenden Stirne, die schon viele Haarte verdrängt hatte, die übriggebliebenen krausen, schwarzgrauen, schienen sich vor ihr zu fürchten und strebten ins Weite, aber sie waren eingefangen worden, die große Blöße zu decken, und beim linken Ohr und hoch über dem rechten Auge waren sie zu zwei Wickeln zusammen gedreht, die durch eingenestelte Haarnadeln Halt bekamen. Über die glühenden Augen hingen wilde Brauen, wie Dornengestrüpp über einen Hohlweg, und unter der Nase sträubte sich ein Schnurrbart wie zum Kinderschreck gemacht. Er versuchte eine kleine deutsche Anrede zu halten, die in ihrem gebrochenen Kauderwelsch so putzig klang, daß die Köpfe der halben Klasse unter die Bänke verschwanden, weil auf dem Boden plötzlich verlorene Gegenstände gesucht werden mußten. Er hatte erklären wollen, das er den französischen Sprachunterricht ganz von vorne beginnen müsse. Zunächst wollte er uns beibringen, wie wir ihn, den Lehrer, begrüßen sollten, wenn er mit einem »Bon jour« zur Tür hereinträte. Ausstehend sollten wir im Takt antworten: »J'ai l'honneur de vous saluer!« Er bekam sichtlich Respekt vor unserer[22] Sprachenkunde, als wir ihn im heimatlichen Tonfall taktvoll anbrüllten! »Schäh lonneer de wuh salliweh!« Er sah uns mit einem Blick an, als ob er fragen wollte, was war das? Französisch nicht – war es persisch oder hindostanisch? Von dem Augenblick an hat er wohl alle Hoffnung aufgegeben, uns jemals zu Franzosen zu machen. – Als er den spanischen Rohrstock in der Ecke stehen sah, der damals zu dem eisernen Bestand einer Schulstube gehörte und nicht zum Vergnügen in der Ecke lehnte, ergriff er ihn mit der linken Hand, hielt ihn stramm an die Hosennaht wie einen Säbel, zog ihn mit der Rechten und salutierte vor uns. Dann trat er zum Lehrpult und ließ die ganze Klasse unisono le père deklinieren, mit dem Rohrstock dirigierte er das Konzert, die schönsten Schwadronenhiebe führend. Wir fingen nun an: le bär – er schlug eine Terz, di bär – eine Quart, oh bär – eine Sekond, le bär – eine Prim, aber die faß auf dem Lehrpult, daß es knallte, der Spanier aber war gespalten. Obwohl er jähzornig war, hat er uns nicht viel getan, dafür angeschrien, daß die Fenster klirrten. Es war schauerlich-schön anzusehen, wenn ihm das südfranzösische Blut in den Kopf stieg, wenn er, die Augen rollend, den roßhaarigen Schnurrbart sträubend, den Delinquenten andonnerte: »O, du 'Immel'und!« Reizten wir ihn stärker, daß er auf die höchste Sprosse seiner Zornesleiter stieg, faßte er mit gewaltigem Griff nach der Brust des Übeltäters, hob ihn über die Schulbank und stellte ihn mit einer Hand auf das Lehrpult. Wie ein Explikateur der Menagerie zeigte er mit dem Rohrstock auf ihn und erklärte: »Seh' Sie 'ier die gräßte Essel von die Klass'!« Es gab viel gräßte Essel in der Klasse, denn viele geizten nach der Ehre einer solchen Vorstellung. – Heute war Mr. Senin ausgeblieben, seine Stunde entfiel und wir wurden nach Hause geschickt. Wie sah es auf den sonst so stillen Straßen aus! In Gruppen standen die Leute beisammen, fuchtelten mit den Händen in der Luft herum und schrieen: »Vor drei Tagen den Landtag aufgelöst – nu[23] schieben sie die Grundrechte und die Reichsverfassung auf die Seite, das lassen wir uns nicht gefallen! Wart't nur! Sie sollen uns kennen lernen!« Das hatte ich deutlich gehört, denn ich drängelte immer näher heran und stand auf einmal im Mittelpunkt der Gruppe. Eine schwere Hand legte sich da auf meine Schulter und ein freundlichen Vollbart sagte zu mir: »Mach', daß du zum Essen kommst, deine Mutter wart't schon auf dich. Heute gibt's Lämmerschwänzel und Quarkspitzen.« So wurde ein Führer der Bewegungspartei unter Gelächter aus einer Volksversammlung hinauskomplimentiert. Ich merkte auf dem Heimweg, daß erregte Leute aus der Friedrichvorstadt in lockeren Haufen, wie von unsichtbarer Gewalt getrieben, der inneren Stadt zueilten. Das hatte etwas zu bedeuten, Vorstädtler kommen nicht umsonst herein. Auch zu Hause gab es eine geheimnisvolle Unruhe, wie vor dem Ausbruch eines gefahrdrohenden Gewitters. Ich erhielt strengen Befehl, mich nicht vom Hause zu entfernen, nur auf mein Bitten wurde mir gestattet, den freien Nachmittag im Nachbargarten mit den Kameraden zu verbringen. Wir spielten die Befreiung Schleswig-Holsteins vom dänischen Joch und bombardierten eben bei Eckernförde das dänische Kriegschiff »Christian VIII.« mit glühenden Kugeln, das zum Schluß, unter Entzündung eines Sprühtenfels, in die Luft fliegen sollte, als wir einen dumpfen Donner dröhnen hörten – das war ein Kanonenschuß! Wir und alle, die nicht zur Stadt gezogen waren, stürzten auf die Straße. Man steckte die Köpfe zusammen, man debattierte, die Weiber am meisten, was der Schuß zu bedeuten habe. »Was wird's sein?« sagte der Schmied, »'s is losgegangen! Das war ein Schuß aus dem Zeughaus« – und der Chorus, wie vom Blitz erleuchtet, schrie: »Ja, ja! das Zeughaus wird gestürmt!« Was von den Männern nun noch laufen konnte, wandte sich der Stadt zu und lief. Die Jungen, die natürlich mitrennen, wollten, wurden von den Müttern am Schlafltichen festgehalten, und wenn eine ihren Bengel vermißte,[24] schrie sie gottserbärmlich nach »Deedor« oder »Heinel«. Die Häuser standen verlassen wie bei einem Erdbeben, alles Leben pulsierte auf den Gassen. Jetzt kamen die ersten atemlosen Boten aus der Stadt zurück: Das Zeughaus ist gestürmt und geplündert! Ein schwerbeladener Wagen sei mit Macht gegen das geschlossene Tor geschoben worden, es sei aufgekracht, aber im selben Augenblick habe eine Kanone ihre Kartätschenladung in die dichte Menschenmasse geschmettert. Unter Schmerz- und Wutgeheul sei das Arsenal vom Volke genommen worden. Die Toten habe man auf Karren geladen, die unter dem Rachegeschrei durch die Straßen gefahren würden. Bald kamen auch einzelne Stürmer mit abenteuerlichen, verrosteten Waffen, mit Morgensternen, Hellebarden, geflammten Schwertern und Zweihändern; die brauchbaren Schießgewehre waren an waffenfähige Männer verteilt worden. Gegen Abend kam mein großer Bruder, ein Neunzehnjähriger, aus der Stadt zurück, er hinkte merklich und stützte sich auf eine Flinte, die er im Zeughaus erobert hatte. Ich war sehr stolz auf diese Flinte, nur schade, daß das Schloß daran fehlte. Mein Bruder mußte erzählen, er erzählte viel und gut, daß man ihm mit offenem Munde zuhörte, er sprach auch obenhin von einem Kolbenschlag, den er in der Hitze des Gefechts am Bein erhalten habe. Ich wurde immer stolzer auf meinen großen Bruder. Er mußte übrigens gleich wieder hinein, das war selbstverständlich. Als wir ins Haus gingen, sagte der Schmied zu mir: »Ich will dir mal was sagen, Hermann. Einer von den Erschten im Zeughaus is dein Bruder nich gewesen, sonst hätt'r sich enne bessere Flinte ausgesucht; na, und das mit'm Kolbenschlag – ja, ja – es is ja möglich – es kann ihm aber auch eener auf die Zehen getreten haben.« Da gefiel mir mein Freund, der Schmied, aber gar nicht. – Es folgten stürmische Tage, die immer wilder wurden; haarsträubende Nachrichten waren im Umlauf, die sich selber Lügen straften, manche aber bewahrheiteten sich und schürten die Aufregung. Der König[25] hatte mit den Ministern die Residenz verlassen, die bewaffnete Macht wurde in der Neustadt zusammengezogen, um von da planmäßig gegen das revoltierende Alt-Dresden vorzugehen, und was die Aufständischen in helle Wut versetzte, preußisches Militär sollte zu Hilfe gerufen werden. Das stieß dem Faß den Boden aus. Barrikaden wuchsen aus der Erde empor, die die Stadt in eine Festung verwandelten, eine provisorische Regierung wurde gebildet. Die Sturmglocken heulten den ganzen Tag, die die Nerven beben machten; Zuzüge vom Land, aus Städten und Städtchen strebten Dresden zu und stauten sich mit dem Proviantkolonnen an den Schlägen. Das Flintengeknatter wurde stärker, je näher man sich auf den Leid rückte, und als die königliche Artillerie den Zwingerwall besetzt hatte, sprachen die Kanonen ein lautes Wort mit darein. Als der Ruf: baut Barrikaden! bis in unsere stille Gegend gedrungen war, gab es kein Zögern. Alle Hände rührten sich. Wen nicht die Gesinnung trieb, den spornte die Furcht.

Mein Vater, einen alten Sorgenstuhl schleppend, dem ein Bein und ein Ohr fehlten, stieß mit einem Regisseur des Hoftheaters zusammen, der einen Hackklotz zum Barrikadenbau herbeiwälzte. Der Regisseur, Hofmann durch und durch, Milchbruder einer hochgestellten Persönlichkeit, und mein Vater stutzten, als sie sich hier bei der Arbeit trafen. Der Herr Regisseur suchte sich geschwind populär zu machen, indem er für die braven Barrikadenbauer Bier anfahren ließ, dann verschwand er auf Nimmerwiedersehen in sein Haus, das dem unseren gegenüber lag. Wie auf einen Zauberschlag standen unsere Barrikaden plötzlich da, recht ruppige Barrikaden, wie Sperlingsnester anzusehen, denn die Begeisterung hatte umsichtig die Rumpelkammern geleert, auch alles, was für das Haus unbrauchbar geworden und im Wege herumstand, auf die Straße geworfen; zuletzt kam dran, was für den Kehricht reif war, zerschlissene Fußmatten, alte eiserne Kochtöpfe, durchgelegene Strohsäcke – alles fort mit Schaden![26] Verschwendungssucht konnte man an unseren Barrikaden nicht wahrnehmen, mit Mahagonimöbeln war keine ausgestattet. Bei dem nun folgenden Aufreißen des Straßenpflasters trat ich mit einem Beil, das ich der Küche entführte, in kräftige Aktion, ich arbeitete, daß die Funken flogen. Als kein Stein mehr neben dem anderen stand, prüfte ich die Schneide meines Beiles – kugelrund; ich vergrub ganz still das Revolutionsbeil unter einen Haufen kleingehackten Holzes. Kenner schüttelten über unsere Barrikaden die Köpfe, sie wären auf Rutschterrain erbaut, es fehle die feste Basis. In den Hauptstraßen der Stadt hatten auf Befehl internationaler Barrikadenbaumeister die Barrikaden, die auf Pflaster erbaut waren, wieder weggeräumt und auf haltbaren Erdgrund gestellt werden müssen. Wir ließen die unseren bestehen wie sie waren, weil sie aber in der Tat ein wirksames Verkehrshindernis bildeten, das nur den Jugend Annehmlichkeiten bereitete, kam man überein, an einer Gassenseite Durchlässe zu eröffnen, die bei herannahender Gefahr schnell geschlossen werden könnten. So war es bei uns am Rande der Stadt, drinnen ging es weltstädtischer zu, wie man erzählte. Der Verkehr in den Straßen war ganz aufgehoben, die Gehwege waren in die Häuser verlegt, die Feuermauern, welche die Gebäude voneinander trennten, durchgeschlagen worden, so daß man ganze Straßenlängen durch Wohnzimmer gehen konnte. Das verlangte die wirksame Verteidigung der Stadt. Hätte ich nur die große Engel-Barrikade am Eingang der Wilsdruffer Gasse sehen können, die bis zur ersten Etage hinaufreichen sollte, und Pauline, das heldenmütige Barrikadenmädchen, von der man sich Wunderdingen erzählte, die in meiner Phantasie als eine Mischung der Jungfrau von Orleans und Regimentstochter lebte, ausgerüstet mit Fahne und Schwert, Trommel und Marketenderfäßchen. Nur einmal die Herrliche sehen, wenn auch aus weiter Ferne! Ich konnte meine Neubegier nicht länger meistern und drang, bei einer Ruhepause, als man nur mäßiges Schießen vernahm, alle[27] Gebote und Barrikaden überschreitend, bis zum Postplatz vor. Ah! da stand die imposante Engel-Barrikade stockhoch, ein mächtiges Verteidigungswerk! Das war freilich etwas anderes als unsere Sperlingsnester. Die Granitwürfel des Straßenpflasters, die breiten Trottoirplatten waren wie ein Panzergürtel der Barrikade um den Leib gelegt, die Häuser die sie flankierten, in Festungen umgewandelt, die Fenster, durch Steine und Matratzen verstellt, zu gedeckten, sicheren Schießluken geworden. Scharf genug ist es später dort noch zugegangen, Beweis dafür ein kleines Fahnenschild am Engel-Hause, das nach dem Kampfe sechsunddreißig Schußlöcher zeigte. Über den Barrikadenrand ragten die Köpfe der Besatzung hervor – aber keine Pauline war sichtbar. Ein Geschrei: »Die Sensenmänner kommen – hurra! die Sensenmänner!« lenkte meine Aufmerksamkeit auf die entgegengesetzte Seite. Nach Erzählungen aus der polnischen Revolution galten sie mir als Helden, die zu siegen und zu sterben wußten, und auch die Dresdner Ausgabe der Sensenmänner wurde von meiner Umgebung hoch gepriesen.

»Du, das sein dir Kerle! Die sein gut, besondersch gegen die Reiderei. Wenn die mit ihren Sensen den Ferden die Beene wegbalbieren und dann den Reidern eens aufs Dach geben, dann is es Rest! dann kommt nich eener davon.« Sie kamen herangezogen mit aufrechtgestellten Sensen – lieber Himmel, wie schrumpften meine Helden in der Nähe zusammen. Es waren die armseligsten Gestalten, die ich je gesehen, sie taten mir furchtbar leid. Da erscholl ein »Halt-la!« Nach und nach kamen die Sensenmänner zum Stillstand. Jetzt sprang ihr Kommandant vor. »Front!« Ach! ach, du liebes Gottchen! das war ja mein Sprachlehrer, Monsieur Senin! Im Schlapphut mit roter Feder, in der Faust einen wirklichen Säbel! Mich überfiel die Angst, er könne mich sehen und erkennen, dann, so bildete ich mir ein, war ich verloren, er würde mich bei der Brust packen, mir eine Sense in die Hand drücken und brüllen: »Da, du[28] 'Immel'und! Stellen du dik ein und marschieren du. Rekten, Linken, le bär, di bär!« Die Angst drehte mich um und jagte mich heimwärts. Wie wohl ward mir, als ich mich wieder zwischen unseren gemütlichen Familienbarrikaden befand. Freilich hörte die Gemütlichkeit auf, als uns die Ereignisse auf den Leib rückten. Das Turmhaus in unserer Nähe war von den Scheibenschützen mit ihren gefürchteten Standbüchsen und von der Turnerwaffenschar besetzt worden, die die Artillerie auf dem Zwingerwall unter Feuer nahm und die Bedienungsmannschaft arg belästigte. Da wurden die Kanonen auf den Turm gerichtet, und es gab ein Hinüber- und Herüberschießen, daß die Ohren gellten, auch hörten wir nicht selten eine verirrte Kugel singen. Abends, wenn die Dunkelheit zur Einstellung des Feuers nötigte, kamen bei mattem Kerzenlicht die Bewohner unseres Hauses auf den rückwärtigen Gängen zusammen, um die Erlebnisse des Tages zu besprechen, das Abendbrot aus der Hand zu verspeisen und Katzen und Hunde auf dem Schoß zu liebkosen, die am Tage so vernachlässigt worden. In diese Idylle schlug plötzlich eine Kugel, die eine Fensterscheibe splitterte und in der Wand stecken blieb. Ein Entsetzensschrei und die ganze Versammlung, samt Katzen und Hunden, prallte auseinander. »Das Licht ausblasen!« kommandierte eine Stimme und wir saßen im Finstern. Erst war es mäuschenstill, dann hörte man den Herrn Registrator keuchen, bevor er, tiefbeleidigt aus empörtem Herzen anhub: »Das nehme mir kein Mensch iebel, aber das is eine Hundsgemeinheit, den Leuten in die Fenster zu schießen, da kann ja das größte Unglück angerichtet werden. Gleich schießen! Mir ham ja gar nicht getan – das is eine Verräderei – so was muß der Behörde angezeigt werden.« Eine andere Stimme aus der Finsternis, wir kannten sie genau, sie gehörte dem »Gescheiten,« der im Gewitterregen das Gras wachsen hörte, wußte sofort den Täter zu nennen. »Das si der Hofbeamte gewesen, wißt ihr, da drüben aus der anderen Gasse, er geht[29] immer zum Scheibenschießen, der hat aus dem Bodenfenster 'rübergeschossen.« Jetzt war die Sache klar, es konnte nicht anders sein, so eine Niederträchtigkeit! Die Anzeige von dem Vorfall mußte in aller Frühe gemacht worden sein, denn gegen elf Uhr wurde der beschuldigte Hofbeamte von einer starken Eskorte nach dem Rathaus gebracht. »Der is ins Fettnäbbchen getreten,« meinte der Schmied, »der wird's kriechen.« – »Der wird ganz eenfach erschossen, oder an die nächste Laterne gehängt. Punktum. Streusand drüber« – erklärte der Gescheite. Aber nach zwei Stunden kam, zum allgemeinen Erstaunen, der Gehenkte frank und frei zurück. »Nu, sagen Sie mal, sind Sie denn nich oben behalten worden?« – »So ein Unsinn,« sagte der Hofbeamte, »ich bin vom 8. April bis jetzt in Karlsbad gewesen, weil's um die Zeit da billigt is, bin erscht heute früh heimgekommen, und soll gestern abend den Leuten in die Fenster geschossen haben! Ich hab's mit meinem Reisepaß beweisen können, daß das gar nicht möglich war, und da haben sie mich sehr höflich wieder fortgeschickt.« Der Mann ging und der Gescheite machte ein dummes Gesicht. »Na ja,« sagte er zu den Umstehenden, »dann is es jemand andersch gewesen, aber gewesen is einer.« Am 7. Mai rückten die Preußen ein und zeigten den Insurgenten die Wunder des jungen Zündnadelgewehrs. Der Kampf wurde immer erbitterter, das Schießen nahm kein Ende, dazu die furchtbaren Sturmglocken die von allen Türmen der Stadt herunterheulten! Die wirkten höchst ungünstig auf meine Magennerven und nahmen mir den Appetit; bei meiner sonstigen guten Veranlagung in dieser Richtung ein bedenkliches Symptom. Auf mich fand das umlaufende Wort Anwendung: »Hunger hab'n mir nich, edler Volksfreind, aber Dorschr.« Um diese Zeit ging das alte Opernhaus in nächster Nähe des Zwingers, in Flammen auf. Wieder schlich ich mich fort, das imposante Schauspiel zu sehen. Ein Riesenbrand, der das hundertjährige ausgedörrte Gebälk prasselnd auflohen ließ, das[30] Kupferdach ergriff und schmelzen machte, die Flammen färbend, daß sie mit grünen und blauen Zungen den Himmel leckten. Der südöstliche Pavillon des Zwingers, sowie der Flügel, in dem das Naturalienkabinett untergebracht war, mußten das Schicksal des Opernhauses teilen. Nach Wochen wurde uns der Schutthaufen der Mineraliensammlung zum ergiebigen Bergwerk, aus dem wir viel schönes Gestein zu Tage förderten. Der Aufstand neigte dem Ende zu, das Militär gewann immer mehr Terrain, obwohl es verzweifelt verteidigt wurde. Das Orangeriegebäude in den Gärten der Herzogin, einige hundert Schritte von unserer Gasse entfernt, wurde von einem preußischen Regiment besetzt. Nun hatten wir das Flintengeknatter in beängstigender Nähe, die verirrten Kugeln brachten ihren pfeifenden Sang uns jetzt öfters zu Gehör. Das Straßenleben verlor seine Reize, die früher gemiedenen Häuser wurden wieder aufgesucht, spärlicher kamen die Nachrichten aus der Stadt, die immer trauriger lauteten. Man hockte apathisch in den Zimmern, ich verstopfte mir die Ohren mit den Fingern um das Sturmläuten nicht zu hören, vergebens, ich hörte es, ich hörte es noch tagelang, als Dresden weit hinter mir lag. Noch einmal wurden wir durch einen Schuß aus unserer Verstumpfung aufgerüttelt. Im Hause gegenüber hatte bei dem Regisseur und Milchbruder, ein altes, adeliges Hoffräulein Wohnung genommen, deren Fenster auf der Gartenseite nach dem Orangeriegebäude schauten, das eben von den Preußen besetzt worden war. Eine Nachricht, die das alte Fräulein voll Entzücken begrüßte. Nur einmal die Helfer sehen, die Retter! Man holt ein langzügiges Fernrohr herbei, das man für sie am Fensterkreuz festhält, sie drückt mit der Hand ein Auge zu, will das andere an die Linse bringen, da durchbohrt die Spitzkugel eines Retters ihre Stirn und lautlos fällt sie tot zusammen. Das unselige Fernrohr war drüben wohl für eine feindliche Flinte angesehen worden. Am 8. Mai tobte ein mörderischer Kampf in den Straßen der inneren Stadt, die Häuser mußten[31] einzeln genommen werden, die Verteidiger wurden bis in die obersten Stockwerke gejagt und dort verrichteten Kolben und Bajonett blutige Arbeit. Am 9. Mai war es vorbei, nun, hieß es, kommt die Vergeltung. Kleinmut und Zagen überkam die Gemüter, und wer etwas auf dem Kerbholz hatte, dem bangte für seine Freiheit. Meinen Vater drückte der Sorgenstuhl, den er zur Barrikade geschleift, der Milchbruder, der ihn dabei gesehen, beunruhigte ihn. Ich merkte, daß er, im Zimmer hin und her gehend, zu einem Entschluß kommen wollte – jetzt blieb er stehen – er hatte ihn gefaßt. »Du, Hermann,« sagte er zu mir, »das beste wird sein, wir gehen ein bißchen zum Onkel nach Meißen auf Besuch. Theater und Schule ist geschlossen, wir rücken auf ein paar Tage aus. Gut ist gut, aber besser ist besser. Dem Milchbruder da drüben traue ich nicht und mit dir ist die Sache auch brenzlich. Die Frauensleute sind sicher. Hole einige Dreierbrotchen, dann wollen wir uns auf den Weg machen.« Wir waren bald reisefertig; mir wurde die Feldflasche umgehängt, natürlich an schwarz-rot-goldener Schnur, mein Vater steckte einige revolutionäre Flugblätter und Proklamationen ein, nahm auch wie ich glaube, ein Sparkassebüchel aus einem geheimen Fache seines Schreibepultes zu sich, und nach kurzem Abschied befanden wir uns auf der Flucht. Wir waren westwärts gesteuert, weil auf dieser Seite die Tore (Schläge genannt) noch nicht vom Militär besetzt sein sollten. Vorsichtig näherten wir uns dem Löbtauer Schlage – keine funkelnden Bajonette – die Luft war rein; wir schlüpften durch, um auf Fußwegen das Elbufer zu gewinnen, denn mein Vater kannte die Umgegend wie seine Tasche. Wir bogen in einen Richtweg ein, der durch junges Getreide führte. Plötzlich klappte mein Vater zusammen. »Duck dich, duck dich!« flüsterte er, seinen Rücken krümmend. Zu einem Häufchen geworden, fragte ich, was denn wäre? »Ich habe Tschakos gesehen – wir laufen den Soldaten gerade in die Hände, wir müssen zurück, nach dem[32] Feldschlößchen zu.« Also umgekehrt, über die Weißeritz, die einen wasserarmen Tag hatte, von Stein zu Stein, manchmal auch danebenspringend, aus andere Ufer, dann trab! trab! bis in die Nähe des Feldschlößchens. Hier hielten wir an und schöpften Atem. Von der Feldflasche nahm mein Vater die schwaruz-rot-goldene Schnur, legte sie zusammen, rollte seine Flugblätter darum und gab sie mir in die Hand. »Du siehst doch dort die aufgehäuften Gasröhren liegen? Da gehst du hin, iust als ob du was abzumachen hättest, steckst die Rolle hinein, daß niemand etwas merkt, und legst einen Stein davor. Mach's recht natürlich. Später, wenn die Luft rein ist, holen wir die Sachen wieder.« Ich vollführte meine Mission und wir konnten nun weitermarschieren, als harmlose Staatsbürger, die einen Spaziergang machen, aber immer auf Feldwegen, um unliebsame Begegnungen zu vermeiden. Eine ältliche Bauersfrau, die am Feldrain einen schweren Tragkorb abgesetzt und sich daneben hingehockt hatte, konnte uns nicht schrecken. Sie bot einen »scheenen, guden Morchen« und fragte, ob wir von »drinne« kämen? (aus der Stadt). Der Vater nickte, und die Alte erkundigte sich, was denn das wäre, daß bloß noch so wenig geschossen würde? »Ja« meinte der Vater, »es wird wohl aus sein.« – »Also ham se gesiecht?« – »Wer?« – »Na, unsere. Mei Suhn und noch zwee andere und der Schullehrer, die sein doch am Freitag 'nein. Der Schullehrer hat ja keene Ruhe gegebn, sie mußten mit, der kann ja reden, da bleibt een Maul und Nase offen stehn, und der hat gesagt, daß sie 'nein mißten und kämfen mißten und daß sie stechen oder stärbn mißten, und dann habn sie sich in der Schmiede de Sensen grade blechen lassen und der Schullehrer hat enne Flinte uf den Buckel genommen, weeß der Deifel wo ersche hergekriecht hat und so sein se 'nein und habn gar nischt mehr von sich hären lassen. Nu ham mir im Dorfe ä bissel was zusammen gemacht, das will ich'n neinbringen, daß se was zu essen kriechen.« – »Ach Muttel,« sagte mein Vater,[33] »geht lieber wieder heim; Euern Sohn werdet Ihr doch nicht finden, drinne geht alles drunter und drüber; die andern haben ja gesiegt.« – »Was?! – de andern – ham – – da missen ja unsre nu stärbn!« Sie weinte und schluchzte, daß ihr die dicken Tränen zwischen den abgearbeiteten Fingern hervorquollen; das dauerte eine halbe Minute, dann trocknete sie sich die Augen mit der blauen Schürze, drückte die Nase hinein, hockte den Tragkorb auf den Rücken und wandte sich der Stadt zu. »Aber Muttel,« sagte mein Vater, »kehrt lieber um, es hilft Euch nichts.« Sie aber schüttelte den ab, der sie zurückhalten wollte – »nee, nee, nee! Laßt mich! Ich will zu mein'n Friede, ich werdn schon finden.« Energisch schritt sie mit dem schweren Korb, dessen Weidengeflecht bei jedem Tritt ächzte und quietschte, auf Dresden zu, daß sie uns bald entschwunden war. – In einiger Entfernung sahen wir auf der Landstraße, die wir zeitweise überblicken konnten, einzelne Gruppen von Männern, die der Revolution zu Hilfe eilen wollten – viele Bergleute in Grubenkitteln – sie wußten noch nicht, daß sie zu spät kamen. – Als unser Fußweg die große Straße kreuzte, winkte uns ein flottes Kerlchen, das singend dahergezogen kam, mit seinem Stöckchen, zog seinen Strohhut und rief von weitem: »O, Sie! warten Sie doch ein bißchen!« Näher gekommen, entschuldigte er sich tausendmal, daß er uns aufgehalten – »aber Sie kommen gewiß aus Dräsen? Wie sieht's denn drinne aus? Wie steht's denn mit der Revolution?« – »Die liegt in den letzten Zügen, wenn sie nicht schon ganz tot ist.« – »Nee, Sie! Machen Sie keene Witze – wirklich? Das is e ausgesuchtes Bech! Ich hab' ein baar Dage freie Zeit, weil ich in Freiberg mein'n Blatz wechsle, und da dacht' ich mir: da kännt'ste dir derweile den Krawall in Dräsen e bißchen in der Nähe besehen – nich mittun, ei nee, nich fier enne Milljon – nee – ich dachte mir, du wirscht bei Helbigen an der Elbbrücke dein Schtandquartier nähmen, und dann bloß so e bißchen zwischen den Barrikaden rumbummeln;[34] nu komm' ich an und der ganze Rummel is aus! Was mach' ich denn nu?« – »Gehen Sie wieder nach Freiberg oder ins Badische, da ist ja auch der Teufel los.« – »Gleich wieder umkehren? Nee, ich bin zwar ä gutes Stickchen mit der Bostkutsche gefahren, aber ich bin doch miede, und 's Badsche nu gar! Mit'n Ausland darf mer keener komm'n. Wissen Sie was? Ich werd' mich ins Feldschlößchen hinsetzen, e baar Debbchen Bier trinken und da werd' ich ja hören. Vielleicht darf man 'nein und kriecht doch noch was zu sehen, was sein Geld wert is. Na, scheensten Dank, Hadjeh!«

Er wirbelte wieder sein Stöckchen zwischen den Fingern und sang da weiter, wo er vorhin aufgehört hatte: »sie kämmt es mit goldenem Kamme und singt ein Lied dabei.« – In großem Bogen hatten wir uns der Elbe genähert, nun sahen wir sie ihre lehmfarbenen Fluten gleichmütig vor sich hinschieben, als ob sie kein Blut getrunken und keine Schauerszene gespiegelt hätte. Ihr Lauf ist so melancholisch und trübe, daß sie den Weinstock an ihren Ufern, der mit jungen Frühlingsaugen in die gelben Fluten starrt, bis in die Wurzeln ansäuert. Der sächsische Dichter Bormann hat uns Aufklärung über ihren Trübsinn gegeben:


Warum fließt denn die Elbe

Bei Dresden so gelbe?

Se grämt sich zuschande,

Se muß aus'm Lande;

Aus'm Lande so scheene,

So gemiedlich und kieene,

Und gleich hinter Meißen,

Fot Schbinne! kommt Breißen.


Nach sechsstündiger Wanderung ohne weitere Abenteuer tauchte endlich der herrliche gotische Turm der Albrechtsburg vor uns auf, vom Volksmund der höckrige Turm genannt; das Ziel unserer Flucht war erreicht, Meißen, die Porzellanstadt. »Nun sei hübsch vorsichtig, Hermann, und stoße mit deiner Gesinnung nirgends an, das könnte hier gefährlich werden,« das[35] wurde mir ins Gedächtnis gemeißelt, als wir das Weichbild der Stadt betraten. »Wir sind keine politischen Flüchtlinge, verstehst du? Wir kommen nur auf Besuch. Hast du denn dein Zahnbürstel? Das hast du vergessen? Das hab' ich mir gedacht. Wenn man dir eine Sache nicht hundertmal einprägt« – mein Vater suchte in der Brusttasche seines Rockes – »ich habe übrigens meines auch vergessen.« Nach den Revolutionsstürmen genossen wir in Meißen vier Tage himmlischer Ruhe, die unsere Nerven mit Öl salbte, nichts schreckte uns auf; wir wurden weder von Gendarmen ausgehoben, noch wurden Steckbriefe gegen uns er lassen, denn Zeitungen wurden eifrig gelesen, und da das alte Bette des Gehorsams in Dresden, nach allen Nachrichten, wieder ziemlich reguliert sein mußte, benutzten wie die Eisenbahn und kehrten in der Dämmerung an den verlassenen häuslichen Herd zurück. Wir hielten uns still im Hause; Schule und Theater wurden wieder eröffnet – kein Hahn krähte nach uns. Mein Bruder war seit vierzehn Tagen verschollen. Am zweiten Tage des Aufstandes war er auf einen Sprung zu uns gekommen, mit einer guten Büchse ausgerüstet, dann hatten wir nichts mehr von ihm vernommen. – Eines Tages wurden wir durch gewaltsames Reißen an der Türklingel aufgeschreckt – es wird durch das Schlüsselloch geguckt: »ein Soldat!« »Ein Soldat!« Wir sind wie gelähmt – es war sicher, jetzt werden wir abgeholt. Es wird abermals an der Klingel gerissen, dann so heftig an dem Türschloß gerüttelt, daß sich unsere Haarwurzeln haben und das Mark in den Knochen gerinnt. Leises Flüstern: »machen wir auf, sonst schlägt er uns die Tür ein.« Der Riegel wird gelöst, ein Soldat zwängt sich herein. »Scheen guden Dag.« Er nimmt den Tschako ab und holt aus dem inneren Lederfutter ein Stück Papier heraus. »Es wird wohl hier recht sein? Es is mir genau beschrieben worden.« Mein Vater nahm den mit Bleistift geschriebenen Zettel und las vor: »In Altenburg bin ich gefangen und zurück nach Dresden transportiert worden.[36] Hier sitze ich im Gewandhaus. Seid so gut und schickt mir Wäsche und mittags das Essen, unser Futter ist zu erbärmlich. Legt keinen Brief zwischen die Wäsche, sie wird streng durchsucht. Messer und Gabel sind nicht erlaubt, nur ein Zinnlöffel. Schickt mir auch einen engen Kamm, ich habe Einquartierung gekriegt. Es geht mir erträglich, wir gruppieren uns, und ich lebe in guter Gesellschaft. Im Verhör war ich noch nicht, es wird aber bald losgehen. Wenn ihr gefragt werdet, ihr wißt von gar nichts. Lebt wohl, es grüßt und küßt euch euer Karl. P.S. Der Soldat hat ein gutes Trinkgeld verdient, wenn er erwischt würde, ginge es ihm schlecht.« Mein Vater drückte dem Mann dankbar die Hand und ließ etwas darin zurück. Der Soldat stand »in Achtung.« »Scheensten Dank. Für so was verdient man sich gern e baar Fennche, man is ja kee Unmensch, man weeß ja, wie's tut, ach herrjemersch! – ich hab' ooch en Bruder im Gewandhause sitzen. Ja!« An der Tür wendete er sich nochmals um: »Es kann ooch mehr wie eene Bordsjohn Essen sein, 's bleibt nicht tebrich, da sein Se gans ruhig, es wird ofgegessen mit Stumb und Stiel, de andern helfen schon mit.« – Ich brannte darauf, am nächsten Mittag mit Wäsche und Speisekorb nach dem Gewandhaus zu laufen; das war ein Weg, mir so bekannt, daß ich ihn mit verbundenen Augen gefunden hätte, denn im Gewandhaus befand sich unser Winterturnsaal, den ich bei strenger Kälte ohne Überrock, nur im Leinenanzug, mit Stolz und innerem Schauer aufsuchte. Das Gewandhaus war unser Lusthaus, und was hatte man daraus gemacht! Vor dem Eingang schilderten zwei Posten mit geladenen Gewehren, im Erdgeschoß war eine Wachtstube eingerichtet und Soldaten, vor den Toren herumlungernd, ließen sich von der Sonne wärmen. Mit wenig Höflichkeit wies man uns Speisenträgern den Weg nach den Sälen der Gefangenen – es waren unsere Turnsäle, und im Vorraum mußten wir warten, bis man uns das Essen abnahm. Soldaten standen an der Türe,[37] visitieren Speisen und Körbe, von einem Offizier überwacht, dann nahm ein Gemeiner den Topf mit Essen und Löffel, öffnete die Tür und schritt hinein, den Namen des Beteiligten rufend. Wachen mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett sicherten den Ausgang und die Fenster des improvisierten Gefängnisses, das sah man durch die Türspalte, man sah auch, wie eng die Inhaftierten zusammengepfercht waren und spürte den üblen, dumpfen Geruch, der mit dem Luftzug herausdrang. So weit man uns heran ließ, drängten wir nach der Türe, um beim Öffnen die Augenhörigen mit einem Blick zu erhaschen, aber der Flügel wurde immer schnell geschlossen. Was konnte man unter den Wartenden für betrübte, gequälte und abgehärmte Miene sehen. An die Frau eines Arbeiters muß ich denken, die Tag für Tag mit ihren drei Kindern kam, die sie nicht allein in der Wohnung lassen konnte, um dem gefangenen Ernährer die Bissen zu bringen, die sie sich vom Munde abgedarbt hatte. Wenn ihr die kleine braune Speiseschüssel abgenommen war, kauerte sie sich auf den Boden nieder und starrte auf die Tür, um ihn vielleicht einmal durch die Spalte zu sehen. Zwei Kinder spielten unbekümmert um sie herum, das kleinste schlief an ihrer Brust, doch es wachte auf und schrie um Nahrung, da kehrte sie sich mit ihm nach der Wand um. Im selben Augenblick riefen die beiden andern Kinder »der Vater! Mutter, da is der Vater!« – Schnell drehte sie sich um, die Tür schloß sich wieder – sie hatte ihn nicht gesehen. Verzweifelt warf sie sich zu Boden und die Kinder fielen auf die Mutter und weinten und streichelten sie. Das war ein Anblick, der einem jungen Herzen bitter weh tat, aber auch der Offizier wandte sein Gesicht dem Dunkel zu. – Einmal wurde mir das Essen wieder zurückgebracht, das in den Saal getragen worden war. »Warten, der Gefangene ist im Verhör.« Nach kurzer Zeit marschierte der Bruder zwischen zwei Soldaten heran, mit einer farbigen Studentenmütze renommierend, die er auf seinen Haarbusch gedrückt hatte, offenbar[38] ein Leihstück aus seiner »guten Gesellschaft.« Mit einem Blick umfaßte ich seine Gestalt, sein Wesen, und war befriedigt, er sah frisch und wohlgemut aus. Jetzt erblickte er mich – wir grüßten und umarmten uns mit den Augen – denn sagen durften wir nichts, sonst hätte es wirkliche Kolbenschläge gegeben. Ich nahm einen beschleunigten Rückzug, die gute Nachricht nach Hause zu bringen. Nach ein paar Wochen wurde die Ernährung der Gefangenen durch die Angehörigen eingestellt, der Staat nahm die Sorge für sie ganz und ungeteilt für sich in Anspruch. Viele Häftlinge waren entlassen worden, andere bereits der Strafe zugeführt, der Rest wurde in den privilegierten Gefängnissen, in der Fronfeste untergebracht. Im Oktober schrieb mein Bruder, von dem wir nichts mehr gehört hatten, ganz unvermutet aus Leipzig, daß er einem Schützenbataillon als Rekrut zugeteilt worden sei – als Strafe? oder war sein Prozeß noch in der Schwebe? Ich weiß es nicht. Im Sommer des nächsten Jahres verschwand mein Bruder aus Leipzig, er war desertiert. Steckbriefe gingen hinter ihm drein, mein Vater wurde auf dem Gericht befragt – er konnte keine Auskunft geben. Eine Woche war vergangen, da flüstert ein Kaufmann meinem Vater ins Ohr, daß er den Deserteur in Hamburg auf der Straße gesehen habe. Der Schreck war groß, aber nach einigen Tagen konnten wir aufatmen. Auf Umwegen war ein Brief in unsere Hände gelangt, in dem Karl schrieb, daß er glücklich in Hull angekommen sei und einen Platz auf einem Schiff genommen habe, das von Liverpool nach Neuyork unter Segel gehen würde. Zu jener Zeit gab es fast in allen Städten Deutschlands Männer, echte Männer, denn sie setzten sich keiner geringen Gefahr aus, die es sich zur Aufgabe machten, freisinnigen politisch Kompromittieren, zur Flucht nach England und Amerika, nach der Schweiz oder Frankreich zu verhelfen, ja es bildeten sich Vereinigungen, die denselben Zweck verfolgten und Geld, Reiselegitimationen und Unterkunft den Flüchtlingen zu beschaffen[39] wußten. In eingeweihten Kreisen waren die Namen der Helfer wohlbekannt und häufig genug wurden sie in Anspruch genommen. Auf diese Art wurde auch mein Bruder nach Hamburg gefördert, das von geheimen Polizisten aus allen deutschen Vaterländern wimmelte, die nach Flüchtlingen fahndeten. Acht Tage mußte mein Bruder dort Aufenthalt nehmen, bis es gelang, ihn über den Kanal zu bringen. In Neuyork verband er sich mit einem andern Exilierten, um die Fabrikation bunter Papierlaternen zu betreiben; gegen die Weihnachtszeit mieteten sie einen Laden, in dem am Tage die lustigen Beleuchtungskörper gemalt gepreßt und geklebt wurden, die am Abend in vollem Lichterglanze strahlend, als neueste deutsche Weihnachtsmode angepriesen wurde, die reißenden Absatz fand. Dies brillante Geschäft sicherte für mehrere Wochen die Existenz der politischen Papierlaternenfabrikanten, bis sie zusagenderen Erwerb fanden. Ein Abglanz der bunten Lampions fiel auch auf den kleinen Bruder, der in der Klasse durch seine Beziehungen und durch seine Erlebnisse in den Maitagen, beinahe in den Geruch der Berühmtheit gekommen war.[40]

Quelle:
Schöne, Hermann: Aus den Lehr- und Flegeljahren eines alten Schauspielers. Leipzig [um 1903], S. 17-41.
Lizenz:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon