Der Arzt und der Kranke.

[74] Für kinderreiche Familien ist es praktisch und angemessen, einen Hausarzt zu engagieren. Mit demselben vereinbart man ein Jahresgehalt, welches ihn verpflichtet, sich stets über den Gesundheitszustand sämtlicher Familienmitglieder auf dem Laufenden zu halten. Zu diesem Zwecke spricht er gelegentlich vor, fragt nach und erteilt Rat. Bei solchen Besuchen empfange man ihn vollendet höflich, halte darauf, daß die Bediensteten ihm seine Sachen abnehmen und biete ihm auch wohl eine Erfrischung an. Seine Fragen beantworte man wahrheitsgetreu und ohne Umschweife und hüte sich, ihn durch langatmige Erzählung eingebildeter Leiden zu ermüden und an der Geduld zu prüfen. Seinen Anweisungen und Vorschriften folge man ohne weiteres und rede ihm nicht mit Bücherweisheit dazwischen. Hat er einen Kranken anrühren müssen, so sei für Waschwasser und reine Handtücher gesorgt.

Der Arzt hingegen verrate keinerlei Eile bei seinen Besuchen, sondern widme sich den kranken Mitgliedern der Familie ganz eingehend, mit herzlicher Anteilnahme auch an den kleinsten Leiden.

In plötzlichen Erkrankungsfällen läßt man den Hausarzt rufen, doch empfehlen wir, ihn nachts nur dann zu stören, wenn die größte Gefahr im Verzuge ist. Es ist rücksichtslos, ihn ohne weiteres aus dem Schlafe zu wecken, besonders wenn er ein älterer Herr oder gar[74] selbst leicht anfällig ist. Die einzelnen Besuche werden nicht honoriert, sondern sind alle in dem Fixum einbegriffen. Wird die Familie jedoch durch eine größere und langwierige Krankheit heimgesucht, so hat man das Bedürfnis, dieses Plus von Arbeit nicht nur durch verdoppelte Dankbarkeit, sondern auch durch eine Extravergütung auszugleichen. Viele Ärzte lehnen dieselbe allerdings ab, was keineswegs als Beleidigung aufzufassen ist.

Es giebt Menschen, welchen die Geldfrage solchen gegenüber, die durch Wissen und gesellschaftliche Stellung über derselben zu stehen scheinen, stets eine hochnotpeinliche bleibt. Das zeugt von seinem Zartgefühle; aber so sehr wir dieses im allgemeinen anstreben, so möchten wir doch behaupten, daß es in dem gegebenen Falle nicht am Platze ist. Denn der Arzt bleibt immer ein Mensch mit menschlichen Bedürfnissen, die durch seine Stellung sogar oft recht bedeutend werden. Darum wetten wir zehn gegen eins, daß eine namhafte Geldsumme den meisten lieber ist, als irgend ein kostbares Geschenk, welches vielleicht nicht den geringsten praktischen Wert hat. Nur wenn ein Arzt bekanntermaßen sehr wohlhabend ist, sollte man sich erlauben, die klingende Entschädigung in eine hübsch gewählte Gabe zu übersetzen.

Verreist der Hausarzt, oder ist er durch eigenes Leiden verhindert, seinen Beruf auszuüben, so wird er das der Familie mitteilen und für die Zeit einen Vertreter stellen. Diesem Substitutarzte zahlt man kein Honorar, doch wird es anständig sein, ihn, falls eine größere Krankheit in seine Vertretung fiel, um eine Liquidation zu bitten oder ihm ohne weiteres eine bedeutendere Summe mit herzlichen Dankesworten zu übersenden. Selbstredend darf hierdurch das Gehalt des Hausarztes keinerlei Einbuße erleiden.

Neben dem Hausarzte unterscheiden wir gelegentlich konsultierte und Spezialärzte. Ersteren bittet man nach Beendigung seiner Thätigkeit entweder um die Rechnung oder führt selbst Buch über seine Besuche, um sie dann am Jahresschlusse zu honorieren, wobei man zwei bis drei Mark als Satz für den Besuch annimmt. Konsultiert man den Arzt in seinem Sprechzimmer, so ist es seiner, ihn nicht, wie einen Kaufmann zu fragen: »Was bin ich schuldig?« sondern ohne weiteres drei, fünf oder zehn Mark auf seinem Tische, zu deponieren, wobei man sich vor prahlerischem Geklapper oder ähnlichem unpassenden Benehmen zu hüten hat. Bei Spezialärzten werden die Besuche höher berechnet. Viele haben ihren bestimmten Satz, den man durch vorherige Erkundigungen leicht in Erfahrung bringt. Unter zehn Mark pflegt man hier nicht zu geben, erlauben es die Verhältnisse, so kann der Satz um das doppelte oder mehr erhöht werden.

[75] Bei besonders ernsten Krankheitsfällen zieht man gern noch einen oder auch mehrere Ärzte hinzu. Der Vorschlag dazu muß vonseiten des Hausarztes oder des zuerstgerufenen gemacht werden. Die Angehörigen können es nicht gut thun, weil manche Ärzte darin ein Zeichen des Mißtrauens erblicken. Das ist allerdings eine Überempfindlichkeit; denn, wie jedermann weiß, sehen vier Augen mehr als zwei, und niemand kann es übelnehmen, wenn man das Leben eines teuren Menschen nicht der Kunst und Wissenschaft eines Einzigen anvertrauen will. Darum sollte der Arzt mit freundlicher Bereitwilligkeit auf eine bloße Andeutung nach dieser Richtung einsehen und sogar darauf bestehen, daß ein Kollege zugezogen werde, um mit ihm die schwere Verantwortung zu teilen. Manche Fälle werden auch so neu und interessant sein, daß es dem Arzte Bedürfnis ist, das Urteil anderer Fachmänner darüber zu hören, und er schon deshalb den Wunsch hat, dieselben zuzuziehen. Daß die Angehörigen des Kranken ihm in solchen Dingen freie Hand lassen, ist selbstverständlich. Das Honorar eines zweiten und dritten Arztes richtet sich nach der Berühmtheit desselben, und es ist stets am sichersten, wenn man die Herren selbst liquidieren läßt. Ist der Betreffende nicht aus dem Orte, so hat er natürlich außerdem Reisespesen zu beanspruchen.

Die Sprechstunden eines Arztes müssen von jedem innegehalten werden, der seinen Rat erbitten will. Die Besucher versammeln sich im Wartezimmer und werden in der Reihenfolge vorgelassen, wie sie angelangt sind, ohne Unterschied des Ranges. Niemand hat sich darüber zu beklagen oder seiner Ungeduld und bösen Laune an dieser Stelle Worte zu verleihen. Sich außer der Reihe vorzudrängen, kann nur jemandem einfallen, der besonders rücksichtslos und schlecht erzogen ist. Jedem Vorgelassenen aber empfehlen wir, sich möglichst kurz zu fassen; bei nötigen Untersuchungen recht schnell zu sein und die Fragen des Arztes prompt und sachgemäß zu beantworten, um die Wartenden nicht unnötigerweise aufzuhalten. Dieselben Rücksichten gelten auch, wenn der Arzt den Patienten besucht, da man nie wissen kann, wie viele noch auf seinen Besuch warten.

Das Warte wie das Sprechzimmer zeichne sich durch soliden Komfort, größte Sauberkeit und reinste Luft aus. Zeitschriften, Kaleidoskope, Bilder, Stereoskope u. dgl. müssen im Vorzimmer aufgelegt sein, um den Wartenden die Zeit zu verkürzen. Der Arzt selber sei in einem gewählten sauberen Anzuge mit tadelloser Wäsche. Er rauche und schnupfe nicht, um die empfindlichen Geruchsnerven mancher Kranken nicht zu belästigen. Beim Gebrauche seiner Instrumente befleißige er sich der größten Reinlichkeit und säubere sie vor[76] und nach der Benutzung in Gegenwart des Patienten. Ebenso geläufig sei ihm das Waschen der Finger. Vor allen Dingen aber betrage er sich außerordentlich höflich und zuvorkommend gegen die, welche ihm vertrauensvoll nahen, und von ihm Heilung erwarten. Geduld und freundliches Entgegenkommen, Teilnahme an den Leiden, auch an den seelischen, wird ihm den Ruhm eines seinen Mannes neben demjenigen eines tüchtigen Arztes eintragen.

Verkehrt man gesellschaftlich mit seinem Arzte, so hüte man sich davor, ihn bei privaten Zusammenkünften oder gar bei größeren Gesellschaften mit Krankheitsgeschichten zu belästigen, um ihm seinen Rat so gleichsam meuchlings abzudrücken. Diesen Verstoß machen Damen noch viel lieber als Herren, und wir können sie gar nicht nachdrücklich genug davor warnen und auf die Sprechstunden verweisen. Dem Arzte wiederum machen wir es zur strengsten Pflicht, in Gesellschaft nicht die Leiden seiner Patienten zum besten zu geben, wie dieses leider häufig vorkommt. Jüngere Ärzte begehen zuweilen den Fehler, in Herrengesellschaft die intimsten Leiden, welche sie in Behandlung haben, zu besprechen, und verletzen dadurch die seine Sitte und ihr Ansehen, ja sogar das Gesetz, aufs gröbste. Der Arzt ist in vielen Fällen zugleich Freund und Beichtiger; aber er muß das in ihn gesetzte Vertrauen auch durch unverbrüchliche Schweigsamkeit rechtfertigen und nicht durch Redseligkeit zur unrechten Zeit die Ehre seines Standes in Gefahr bringen.[77]

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 74-78.
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