II. Verhältnis der göttlichen zur menschlichen Intelligenz betreffend
(11. Oktober 1900)

[204] Ich glaube den Satz aufstellen zu dürfen, daß die göttliche Intelligenz mindestens gleich ist der Summe aller in vergangenen Generationen dagewesenen menschlichen Intelligenzen. Denn Gott nimmt nach dem Tode alle Menschennerven in sich auf, vereinigt also die Gesammtheit ihrer Intelligenzen in sich unter (allmählicher) Abstreifung aller derjenigen Erinnerungen, die nur für die betreffenden Einzelwesen von Interesse waren und daher nicht als Bestandtheile einer allgemein werthvollen Intelligenz in Betracht kommen.

Unzweifelhaft ist z.B. für mich, daß Gott der Begriff der Eisenbahnen, deren Wesen und Zweckbestimmung bekannt ist. Woher hat Gott diese Kenntniß erlangt? An und für sich hat Gott (unter weltordungsmäßigen Verhältnissen) von einem rollenden Eisenbahnzug, wie von allen sonstigen Vorgängen auf der Erde, nur den äußeren Eindruck; die Möglichkeit wäre gegeben gewesen, sich durch Nervenanhang bei irgend einem mit dem Eisenbahnwesen vertrauten Menschen näheren Aufschluß über Zweck und Funktion der Erscheinung zu verschaffen. Doch lag hierzu schwerlich irgendwelche Veranlassung vor. Im Laufe der Zeit wuchsen Gott die Nerven ganzer Generationen von Menschen zu, denen sämmtlich die Bedeutung der Eisenbahn geläufig war. Damit wurde die Kenntniß des Eisenbahnwesens von Gott selbst erworben.

Soll man deshalb annehmen, daß Gott seine ganze Weisheit nur aus der Intelligenz früherer Menschengenerationen schöpfe? Offenbar spricht Alles gegen eine Bejahung dieser Frage. Wenn Gott selbst es gewesen ist, der den Menschen gleich anderen Geschöpfen erst geschaffen hat, so kann man unmöglich annehmen, daß seine Intelligenz nur eine aus der menschlichen abgeleitete sei. Man wird nicht umhin können, rücksichtlich einer gewissen, namentlich der die Schöpfungsvorgänge selbst betreffenden Sphäre des Wissens eine ursprüngliche göttliche Weisheit anzunehmen. Damit ist indessen vielleicht nicht unvereinbar, daß Gott in allen Dingen, die menschliche Einrichtungen, menschliches Geistesleben, menschliche Sprache usw. betreffen, die unzweifelhaft auch hier bei ihm vorhandene Einsicht erst durch Aufnahme unzählicher Menschennerven erworben hat. Die letztere Annahme erscheint fast unabweislich in Folge des Umstandes, daß Gott sich (wie schon füher unter weltordnungsmäßigen Verhältnissen im Verkehre[205] mit den Seelen in der Form der Grundsprache) so auch mir gegenüber der menschlichen Sprache, insbesondere der deutschen Sprache bedient und zwar auch dann, wenn dies wie bei den »Hülfe«-rufen oder von Seiten des niederen Gottes Ariman, sobald er an der Seelenwollust Theil nimmt, mit den Worten »Freut mich« im Ausdruck einer echten Empfindung geschieht oder in letzterer Beziehung wenigstens geschah.

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 204-206.
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