VII. Feuerbestattung betreffend
(Mai 1901)

[234] Die in neuerer Zeit ziemlich lebhaft gewordene, in besonderen Vereinen organisirte Bewegung für Feuerbestattung regt eigene Gedanken in mir an, deren Mittheilung vielleicht nicht ohne Interesse ist. Die von kirchlich-gläubiger Seite gegen diese Art der Leichenbestattung erhobenen Bedenken verdienen nach meinem Dafürhalten die allerernsteste Berücksichtigung. Denn es wird allerdings die Frage aufgeworfen werden dürfen, ob nicht Derjenige, der seine Leiche der Feuerbestattung unterwerfen läßt, damit auf eine Wiedererweckung im jenseitigen Leben verzichte oder der Anwartschaft auf die Seligkeit sich beraube1. Auch die Seele ist nichts rein Geistiges, sondern beruht auf einem materiellen Substrat, den Nerven. Hätte daher die Feuerbestattung eine vollständige Vernichtung der Nerven zu Folge, so würde damit auch ein Aufsteigen der Seele zur Seligkeit ausgeschlossen sein. Ob die angegebene Voraussetzung zutrifft, wage ich als Laie in der Physiologie der Nerven nicht bestimmt zu behaupten. Nur soviel scheint mir unzweifelhaft, daß die Frage wesentlich anders liegt, als in denjenigen Fällen, in denen der Körper eines Men schen etwa bei Brandunglücken oder bei mittelalterlicher Ketzer- und Hexenverbrennung dem Feuertode ausgesetzt worden ist. Der Feuertod ist in solchen Fällen wohl wesentlich ein Erstickungstod; von einer vollständigen Vernichtung des Körpers ist dabei schwerlich die Rede; selbst die Weichtheile werden wahrscheinlich meist nur angekohlt werden; eine gänzliche Zerstörung der Knochen und der in ihnen (insbesondere in der Schädeldecke) steckenden Nervenenden findet dabei sicher nicht statt. Diese Fälle lassen sich also mit der modernen Feuerbestattung kaum vergleichen, bei der in eigenen Krematorien unter Entwickelung exorbitanter Hitzgrade, Absperrung der atmosphärischen Luft usw. eine vollständige Vernichtung alles dessen, was von dem Menschen nach dem Tode noch vorhanden ist, bis auf ein geringes Häuflein Asche, methodisch angestrebt und vielleicht auch erzielt wird. Ich halte es demnach zum Mindesten für nicht unwahrscheinlich,[235] scheinlich, daß dabei auch mit den Nerven eine physiologische oder chemische Veränderung vorgeht, die eine Wiedererweckung derselben im jenseitigen Leben ausschließt.

Diesen Erwägungen gegenüber muß nach meinem Dafürhalten weit zurücktreten, was zu Gunsten der Feuerbestattung unter ästhetischen, sanitären oder volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten geltend gemacht zu werden pflegt. Auch in letzterer Beziehung sind die vermeintlichen Vortheile wohl äußerst prekärer Natur; insbesondere wird der durch Ersparung von Friedhöfen usw. erhoffte wirtschaftliche Gewinn wohl durch die gewaltigen Kosten ausgeglichen werden, welche die Feuerbestattung – wenn man sie sich als eine allgemein gewordene Einrichtung vorstellt – verschlingen würde. Auf Jahrhunderte hinaus ist vermuthlich nicht daran zu denken, daß der überwiegende Theil der Bevölkerung die alte Sitte der Leichenbeerdigung aufgeben sollte. Daß jemals ein Zeitpunkt kommen sollte, wo etwa jedes Dorf oder jeder kleinere Bezirk sein eigenes Krematorium besitzen würde, will mir kaum wahrscheinlich dünken. Allein die für das sittliche Gefühl entscheidende Frage wird immer die bleiben, ob die morderne Feuerbestattung mit der Hoffnung auf eine künftige Seligkeit verträglich ist.

Ich weiß wohl, daß es viele Menschen giebt, die an dieser Frage ziemlich gleichgültig vorüberzugehen geneigt sind. Es handelt sich dabei nicht immer blos um Aeußerungen des Unglaubens, d.h. um bewußte Anhänger des Atheismus. Der Widerwille gegen die Vorstellung einer mit dem eigenen Körper nach dem Tode vorgehenden Verwesung drängt bei manchen Menschen jede andere Erwägung zurück; unklare Vorstellungen über die Natur des im jenseitigen Leben zu erwartenden neuen Daseins erzeugen, zumal bei pessimistisch angelegten Naturen nicht selten Stimmungen, in denen sie sich und Anderen vorreden, es liege ihnen gar Nichts an einer Fortdauer nach dem Tode, es sei ihnen ganz recht, wenn mit dem Tode Alles aus sei und Alles, was von ihnen noch vorhanden sei, so vollständig als möglich verschwinde, um nicht für andere Menschen als Gegenstand eines doch vielleicht nur getheilten Interesses zurückzubleiben. Allein ich glaube nicht zu irren, wenn ich annehme, daß solche Stimmungen niemals länger anhalten werden, als bis einmal die Schrecken des Todes wirklich in greifbare Nähe gerückt sind. Irgend eines Trostes, irgend einer Hoffnung bedarf auch der Mensch, der vielleicht zu langem, schmerzvollen Krankenlager niedergestreckt, sich der Gewißheit des bevorstehenden Todes nicht mehr verschließen kann; furchtbar können die Leiden werden, wenn der Sterbende nach dem in religiösen Dingen von ihm eingenommenen Standpunkte sich jeder Hoffnung beraubt glaubt und sich damit auch für die Tröstungen der Religion unempfänglich gemacht hat. Für Denjenigen, der die Anordnung einer Feuerbestattung getroffen hätte, käme vielleicht der quälende Zweifel hinzu, ob er nicht gar selbst dazu beigetragen habe, sich jede letzte Hoffnung zu verschließen. Wohl Dem, möchte ich ausrufen, der in solcher Lebenslage wenigstens noch die Möglichkeit[236] gegeben sieht, die Anordnung der Feuerbestattung zu widerrufen, die er in gesunden Tagen vielleicht in mehr oder weniger leichtfertiger Stimmung getroffen hatte!

Die Frage, ob die Geistlichkeit bei einer Feuerbestattung aus Rücksicht auf die leidtragenden Hinterlassenen den kirchlichen Segen ertheilen oder Trostworte sprechen dürfe, mag nach individueller Auffassung einer verschiedenen Beantwortung unterliegen. Daß die Lage des gläubigen Geistlichen dabei eine ungemein schwierige ist, scheint mir zweifellos. Denn er wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, daß Derjenige, der die Feuerbestattung angeordnet hat, bei einer Entscheidung, die für die Frage der Fortdauer nach dem Tode wenigstens nach Befinden von Bedeutung ist, eine starke Gleichgültigkeit an den Tag gelegt habe; zudem werden wohl fast alle Geistlichen mindestens eine Ahnung des von mir entwickelten Zweifels haben, ob denn eine Seligkeit nach vollständiger Vernichtung der Nerven überhaupt noch möglich sei?

Man lasse sich auch nicht durch den Einwand täuschen, daß die Annahme, es könne die Feuerbestattung irgendwelchen Einfluß auf die Möglichkeit einer Wiedererweckung nach dem Tode äußern, sich mit der Vorstellung von Gottes Allmacht nicht vereinigen lasse. In absoluter Unbegrenztheit ist eben diese Allmacht nicht vorhanden; es ist z.B. auch für Gott nicht möglich, etwa einer Kindesseele oder der Seele eines in Sünden versunkenen Menschen dasselbe Maß von Seligkeit zu verschaffen, das der Seele eines gereiften Mannes von der intellektuellen Bedeutung einer unserer geistigen Größen in Kunst und Wissenschaft oder der Seele eines sittlich hochstehenden Menschen zu Theil wird. Demnach verbleibt allerdings die Möglichkeit, daß der Mensch durch eigene Veranstaltungen, die Aussicht auf ein Wiederaufleben nach dem Tode, die ihm an sich nach der Weltordnung gewährt ist, sich selbst verschließen könne. Die menschliche Willensfreiheit ist hier, wie sonst, durch Gottes Allmacht nicht aufgehoben (vergl. Kap. XIX der Denkwürdigkeiten), aus dem Gebrauche, den der Mensch von seiner Willensfreiheit macht, können mithin Folgen sich ergeben, die auch von Gott nicht wieder rückgängig zu machen sind.

1

Daß nach der Weltordnung an sich eine Fortdauer nach dem Tode oder eine Seligkeit stattfindet, ist für mich nach dem Gesammtinhalte meiner früheren Darlegungen (vergl. insbesondere Kap. I der Denkwürdigkeiten) vollkommen unzweifelhaft. Damit steht natürlich nicht im Widerspruch, daß auf solange, als die weltordnungswidrige ausschließliche Beziehung zwischen Gott und meiner Person dauert, die Neubegründung von Seligkeiten nach meinem Dafürhalten suspendirt ist (vergl. Kap. II am Ende und Kap. V am Ende der Denkwürdigkeiten).

Quelle:
Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Bürgerliche Wahnwelt um Neunzehnhundert. Wiesbaden 1973, S. 237.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken.
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken: nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage:
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken