Der erste Sonntag.

[42] So kam der erste Sonntag heran. Die Kalfaktoren brachten nach dem Morgengesang und dem Gebet das Wichszeug und die Kleiderbürsten. Heute hatten wir Kaffee und ein Stück Brot erhalten. Wir wichsten unsere Schuhe und ich legte eine besondere Sorgfalt darauf, daß die alten, viel geflickten, mit Nägel beschlagenen Töpfe glänzten; ich wollte jede Strafe peinlichst vermeiden. Bürstete auch meinen schwarzen Anzug sauber aus und meine schwarze Kappe. Dann wurden Gesangbücher ausgelegt, für jeden Mann eins. Wir mußten uns im Gang des Werkstattsaales in zwei Reihen aufstellen und ein Spanner filzte (untersuchte), ob die Kleider sauber und die Schuhe in Ordnung und die Mütze ohne Schild vorschriftsmäßig saß. Nach diesem Appell gingen wir, je zwei Mann, die Treppe gleich einer Kette hinunter. Es standen schon Leute in drei Reihen auf dem Hof. Der Werkführer in Spannerkleidung (Aufseherkleidung) und Degen. Der Hausvater in Uniform. Beide richteten uns aus in drei gleiche Reihen. Jede mit einem Abstand, daß ein Mensch bequem durchkonnte. Der Leiter des Arbeitshauses kam. Der Hausvater kommandierte im Generalstone: »Richt' Euch!«[42]

Wir begrüßten ihn durch Abnehmen der Mützen. Er nahm seinen Cylinder ab und wechselte mit dem Hausvater und Werkmeister einige Worte. Schritt mit diesen beiden die erste Reihe langsam ab, jeden Mann prüfend, dann die zweite Reihe und zuletzt die dritte.

In der dritten Reihe stand ich. An mich herantreted, sagte er: »Wie heißen Sie?« Kalt sagte ich meinen Namen.

»Sie haben Ihre Jacke schlecht ausgebürstet. Das nächste Mal machen Sie es besser.« Doch er verbesserte sich und sagte zum Hausvater: »Geben Sie diesem Mann einen bessere Jacke, die ist verschossen!« Auf die Anrede vom Direktor erwiderte ich nichts, aber zwei durchstechende Blicke sandte ich ihm zu und ich wußte, er hatte diese aufgefangen ...

Nach Beendigung dieser Kontrolle kommandierte der Hausvater: »Rechts um!« und wir gingen zur Kirche. Vor der Kirche standen zwei alte Opferstöcke, Blechbüchse, an den Bettel für die Kirche erinnernd. Wir schritten zu dreien in der Reihe und gleich einer dreigliedrigen Kette kamen wir an. Die Aufseher verteilten uns. Ich kam unter der Kanzel zu sitzen. Links neben mir in einer besonderen Abteilung saßen die Armenhäusler, Männer, meist siebzig Jahre alt. Sie hielten, wie wir, in ihren verschrumpelten Händen das Gesangbuch. Linker Hand an der äußersten Front saßen Freie. Meist Mädchen und Frauen und auch zwei alte barmherzige Schwestern. Mir gegenüber saß nicht weit von der Stelle, wo der Pfarrer das Abendmahl verabreichte, der Herr Direktor und seine Frau Gemahlin. Oben, wo die Orgel stand, am Hauptchor, saßen die Sänger auch Korrigenden, und der Kantor, ein alter Mann, der mit Virtuosität die Orgel spielte. Er war der einzige von unseren Vorgesetzten, der uns mit guten Worten leitete. Der Kantor spielte die Einleitung zu einem Choral, dann wurde gesungen. Der Pfarrer sprach das Einleitungsgebet. Dann wurde wieder gesungen. Ich hielt mein Gesangbuch aufgeschlagen vor mich sang aber nicht. Die Lippen fest auf die Zähne gepreßt, im[43] Innern den Kirchenzwang verfluchend. Der Seitenchor war verhängt. Hinter diesem saßen die weiblichen Korrigenden. Wenn nicht manchmal ein Weib die Schreikrämpfe bekam in der Kirche, hätte man nie geahnt, daß hinter diesem grauen Vorhang Menschen saßen.

Was der Pfarrer predigte, darauf hatte ich keine Acht. Nur fügen – bis meine Zeit um war – um aus dieser Hölle herauszukommen ...

Wenn die anderen aufstanden, stand ich auch auf. Setzten sie sich, so machte ich es auch. Also alles wie ein Automat – wie eine Marionette. Ich grübelte vor mich hin – und wenn die Orgel ertönte, sang mein Gehirn einen Fluch auf den erzwungenen Kirchenbesuch. Mein Gesicht verriet nicht, was in meinem Innern vorging. Meine Lippen preßte ich fest auf mein defektes Gebiß, als wenn ich Zahnschmerzen hatte, und sog an meinem Stück Kautabak.

Nach Beendigung des Gottesdienstes stellten uns die Spanner wieder auf und wir gingen wieder nach unseren Abteilungen und gaben die Gesangbücher ab. Ein Korrigend packte diese in einen Kasten und verschloß ihn. Wir zogen unsere Kleidung um, legten vorschriftsmäßig Jacke und Hose in unseren Schrank und unterhielten uns leise.

Der Vorarbeiter kam zu mir und sagte: »Schuchardt, Du hast ja heute zum ersten Tag von unserem Allerobersten schon eine Rüge bekommen. Nicht wahr, das fängt schon gut an. Ja, hier wird nicht lange gefackelt!«

Er versuchte mir Angst zu machen. Der Hausvater hätte meinen Namen aufgeschrieben. Da käme immer etwas nach.

Mein Arbeitspartner stand daneben und sagte zu dem Vorarbeiter: »In der Kirche hat das Biest auch nicht mitgesungen, wie so ein Stockfisch hat er dagesessen!«

Wir lachten alle drei, ich war so klug, es mit dem Vorarbeiter nicht zu verderben; denn dieser hatte die vergangene Woche drei Mann wegen nicht geleisteten Pensums zu Kostabzug[44] verholfen. Ich hatte gesehen, wie die armen Kerle uns zusehen mußten beim Essen – und wir durften ihnen bei Strafe nichts abgeben.

Es wurden Bücher ausgeteilt, Anstaltsliteratur. Erzählungen, die Scherlsche Woche, alte Nummern, alte Jahrgänge, auch alte Nummern vom »Universum« und der »Weiten Welt« sowie vom evangelisch-christlichen »Daheim«.

So las ich in solchen Heften verschiedene Kritiken über Meister der Tonkunst und der Dramatik. Auch über Rubinstein, der in Petersburg gestorben war. Komponist, Musiker und Dichter war dieser Mann und hatte auch verschiedene Heinrich Heinesche Lieder komponiert. In einem dieser Hefte standen eine große Reihe von Aphorismen von Rubinstein. Auch las ich gern Schilderungen von Land und Leuten. An christlichen Erzählungen hatte ich keine Freude; einmal las ich eine Geschichte von einem verlorenen Sohn. Dieser Geisteskohl war mir so zuwider – und hier sollten die Menschen zur Zufriedenheit erzogen werden und zur Gottesfurcht ... Ich tröstete mich mit dem einen Teil des Ulichschen Gedichtes:


»Geh' Deine Bahn und laß die Leute schwätzen!

Die Bahn ist lang, die Leute schwätzen viel!

Geh' Deine Bahn und Dein bewußtes Ziel!«


Als armer Teufel hatte ich ja die Herren Stellvertreter Gottes, die Geistlichen, nicht von der besten Seite kennen gelernt. Aber ich habe von Arbeitern und armen Leuten wirkliche Wohltaten erhalten, während mir die Frommen für die Gefälligkeitsformen entweder nichts gaben oder mir den Senf auftrugen bei Verabreichung einer kleinsten Nickelmünze oder gar weniger Pfennige: daß ich ein junger Mensch sei und schaffen könne. Diese Leute wußten eben nichts von dem Milieu eines wandernden, hungernden Arbeiters oder wollten es nicht wissen. Unter diesen Betrachtungen verlebte ich meinen ersten Sonntag.

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 42-45.
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