Selbstmord.

[94] Am Montag, den 23. November, nachmittags brachte der Stationsschreiber uns die Kunde, Priest, genannt Pust, habe sich erhängt. Priest sei allein eingesperrt worden in dem Anstaltsgefängnis, weil sein geisteszerrütteter Zustand nicht mehr zuließ, ihn mit anderen Menschen zusammenarbeiten zu lassen. Er störte seine Kollegen bei Tag und Nacht.

Immer sagte er: »Leute, welche die schwarze Kunst ausüben, verfolgen, quälen mich. Man staucht mich dort und hier herum, sogar im Schlafe finde ich keine Ruhe!«

Der Aufseher, der Pust's Zelle beabsichtigte, war während der Mittagszeit nicht anwesend. Pust verlas Garnenden von Kokosfasern oder spließte. Er drehte sich einen Strick, befestigte ihn hoch genug und hängte sich auf.

Den nächsten Tag kam noch ein Arzt mit dem Anstaltsdoktor, um zu beweisen, daß Priest sich erhängt habe, oder auch, daß keine Mißhandlung an Priest's totem Körper zu[94] sehen sei. Ob er begraben ist oder ob sein Leichnam nach der Universität gebracht wurde, kann ich nicht verraten. Diese Anstalt schickte nämlich auch Kadaver von uns nach der Universität.

»Armer Pust,« dachte ich, »wie gut hast Du es jetzt. Endlich durch einen gewaltigen Ruck hast Du Deine Nervenstränge beruhigt, kein einziges Wesen kann Dich mehr beunruhigen. Kein Mensch kann Dich jetzt peinigen oder verletzen. Du hast ausgelitten.«

Wenn Pust lebend beim Selbstmordversuch betroffen wäre, dann wäre er von der Verwaltung bestraft worden. Zu dieser Zeit hätte ich am liebsten dasselbe getan, was Pust zu seiner ewigen Ruhe tun mußte. Aber leider fand ich keine Gelegenheit, um mir den letzten Rest zu geben. Für mich war so ein Leben eine Qual, eine Hölle auf Erden. Die siebzehnte Woche ist erst zu Ende. – –

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 94-95.
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