München, Freising, Straubing, Landshut, München.

[12] Mein Halbbruder, der uns entgegengeritten kam, brachte uns in unser Quartier, das er für uns gemietet hatte. Meine Eltern besuchten den Prinzipal, der nun zum zweiten Mal geheiratet und ein sehr junges Ding genommen hatte. Aber wie groß war meiner Eltern Erstaunen, da sie nichts als die bitterste Armut fanden. Der Herr Johann Schulz saß da in einem alten Rock, reichen Weste, wo aber nur die Fäden, wo Silber dran gewesen, hervorguckten, mit Stecknadeln zugesteckt, und einer zweiknötigen Allongenperücke. Die Frau Prinzipalin mit niedergetretenen Schuhen ohne Absätze, zerrissenem Haushabit, aber doch weiß und rot geschminkt, Muschen im Gesicht und schwarze Bänderchens um die Hände. Die drei Mädchen nicht viel besser. Nur daß die weder Muschen noch Schmuck aufgelegt hatten, denn die Stiefmama mußte doch einen Vorzug haben. 100 Gulden hatte unsere Reise gekostet, und der Prinzipal hatte keine 100 Kreuzer. Meine Eltern hatten wohl noch etwas mehr als 100 Gulden, doch keine Lust, die Fuhre zu bezahlen, beschlossen also ganz gelassen, daß, wenn der Prinzipal nicht bezahlen könne, wir gerade wieder umkehren und nach Wien zurückreisen wollten. Endlich machte der Prinzipal doch Anstalt, und nach acht Tagen bekamen meine Eltern ihre Koffer vom Boten heraus, die er solange behalten, bis er bezahlt war.

Das erste Stück nach Ostern war »Das befreite Venedig«. Meine Mutter spielte die Belvidere und gefiel sehr. Der Hof war den Tag nicht im Schauspielhaus, doch wurde sehr vorteilhaft davon bei Hofe gesprochen, so daß den andern Tag, als eine Burleske, wie damals noch der Brauch war, gegeben[12] wurde, der Kurfürst mit seiner Gemahlin und der ganze Hof gegenwärtig war. Das Stück hieß: »Die politische Kammerjungfer«. Meine Mutter spielte sie. Als sie heraustrat, sagte der Kurfürst überlaut: »So sollten sie alle sein.« Nach Endigung des Stückes mußte meine Mutter zu der Kurfürstin in die Loge. Sie sagte unter anderem zu ihr: »Mache Sie, daß mehr von Wien hierher kommen.« Meine Mutter antwortete: »Ihro Hoheit, ich wünschte, daß ich dageblieben.« Aus diesem mag man schließen, wie es mit dem Prinzipal und seiner Gesellschaft beschaffen war, den einzigen Herrn Celius ausgenommen, der den Hanswurst machte und sich sehr gut mit seiner Familie stand. Mehr will ich von der Einrichtung nicht sagen, denn ich will keine Theatergeschichte, sondern nur meine eigene erzählen, oder doch insoweit, als es auf mich einwirken mußte, mich denken, empfinden und das Gute vom Bösen zu unterscheiden lehrte.

Meine Mutter hatte vielen Beifall, das erweckte den Neid der Frau Prinzipalin. Also des Hausfriedens wegen machte der Prinzipal seinen alten Schlendrian, den man sich bis zum Ekel gesehen hatte, fort. Die Zuschauer blieben weg, und so konnten denn keine Gagen erfolgen. Nun, da die Not am größten war, sollten meine Eltern neue Stücke hergeben. Sie taten's, aber der Sommer war da, wo man denn lieber spazieren geht, der freien Luft sich freut, als sich ins Schauspielhaus einschließt. Nun ging's ans Reisen. Die ganze Gesellschaft setzte sich auf ein Floß, und so fuhren wir nach Freising, spielten da einige Wochen, und von da aus ging's nach Straubing. Von beiden Oertern weiß ich mich soviel zu erinnern, daß meine Mutter sehr wohl gelitten war in des damaligen Kanzlers Haus, der de Luegern hieß. Die kanzlerische Familie in Freising gab meiner Mutter Empfehlungsschreiben an die Kanzler de Luegern nach Straubing, und die wieder nach Landshut. Viele Freundschaft genossen wir von den lieben Menschen. Noch danket's ihnen mein Herz. Wenn es gleich sehr natürlich ist, daß sie an mich nicht mehr denken können, so kann ich doch nie, solange ich lebe, meine Freunde und Wohltäter vergessen. Aber ebensowenig die, von denen ich das Gegenteil erfuhr.[13]

Nun saßen wir in Landshut, und zwar in sehr traurigen Umständen. Der Herbst war schlecht, auch grassierten schwere Krankheiten. Die Heuschrecken taten vielen Schaden. Also betete man, und die Schauspielkunst darbte. Mein Vater wurde sehr krank. Sein Geld ziemlich zusammengeschmolzen, viel zu fordern an den Prinzipal, der so arm war wie eine Kirchenmaus. Meine Mutter saß sehr kläglich am Krankenbette meines Vaters und überlegte, was sie von ihren Sachen verkaufen sollte, als der Briefträger einen Brief brachte, und zwar mit Geld. Von wem kann das kommen? München, Freising, Straubing war durchgestrichen, und ist gleich bis Landshut ans Krankenbett gekommen. Der Brief war von dem alten bekannten Direkteur Franz Schuch. Mein Vater hatte ihm einige neue Komödien geschickt, nichts dafür gefordert, und da schickte der alte Bekannte zur Danksagung das Präsent. Ob's 6, 8 oder 12 Dukaten waren, ich weiß es nicht mehr. Genug, das Geld hätte nicht erwünschter kommen können, und was noch das beste war, es trug zur Genesung meines Vaters bei. »Gott Lob,« höre ich noch diesen redlichen Vater ausrufen. »Nun kann ich meinen Wirt bezahlen und bleibe niemandem etwas schuldig.« Dank dir, lieber Vater, noch im Grabe für diese innige Ausrufung. Es war die zweite, die tief mein Herz traf.

Mein Vater wurde besser und ging wieder aus. Gespielt wurde nicht, und niemand wußte, wohin es gehen würde. Einige hatten von selbst heimlich ihren Weg zum Tor hinaus genommen, ohne ihre Wirte zu bezahlen. Darunter war denn auch mein Halbbruder, der, trotz der Vater krank war, nicht einmal Abschied nahm. Den Tag darauf, als mein Vater den Brief mit Geld bekommen, kommt der Wirt, wo Christian gewohnt hatte, sehr grob zu uns, sagte, daß Monsieur Schulze davongegangen, ohne zu bezahlen, hätte aber seinen Hund (war ein schöner Mops, hieß Moodel; wir hatten ihn von Wien mitgebracht, und der Hund gewöhnte sich zu meinem Christian) im Bette vergessen. Den hätte er, um sich zu rächen, ins Wasser geworfen und ersäuft. »Ach, mein Moodel!« schrie ich und weinte. »Der arme Hund!« sagten meine Eltern. – Nun zum Wirt: »Herr, er ist ein[14] Flegel! Hätte er mir den Hund gebracht, gern hätte ich die Schuld meines Sohnes bezahlt, aber nun geh' er, pack er sich, oder ich laß ihn die Treppe hinunterwerfen.« – Der Wirt ging und hätte nun wohl selbst seines Geldes wegen gewünscht, daß der Hund noch lebte.

Eines Tages, da wir still für uns saßen, kam des Prinzipals älteste Tochter und brachte einen Brief an meinen Vater von dem ihrigen, weinte und ging gleich wieder weg. Mein Vater erbrach und las ihn. Da derselbe noch in meinen Händen ist, so will ich solchen hier von Wort zu Wort, und wie er abgefaßt war, in dem damaligen Stil abschreiben.


Monsieur,

Vor Scham, teils auch vor Schmerzen, daß ich die Herrn Purschen (so nannten die Prinzipals ihre Akteurs) nach meiner Schuldigkeit noch nicht soulagieren kann, ist Ursach, daß ich nicht mündlich bei Monsieur meine höflichste Ersuchen machen kann, mir nur dieses Mal mit Rat und That beizuspringen, indem ich schon seit Montags, ja schon verflossene Wochen hindurch uns eine zulängliche Hülfe umb nach München zu gelangen, doch vergeblich gesucht habe. Nun ich heute einen guten Freund consuliret, hat mir derselbe zu dem H. Hauswirt gerathen, welcher gestern, als Sie in dem Zimmer unten getrunken, auch zugegen gewesen: Wo so denn dero Herr Wirth nach Ihrem Hinaufgehn gesprochen: »Das ist ein rechter Prafer Herr, wann ich wissen sollte, daß er in was anstehn sollte, ich wollte ihm gleich helfen.« Thun Sie es also mir Und meinen armen Kindern zu lieb, machen Sie demselben einige propossilien; Sie können den Herrn Wirt jemandt mit dem beting auf meine Unkosten hin und her nebst aller desoulagement nachsenden, damit er also mit ersten zu seiner Wiederbezahlung gelangen möge. Sie erwegen selbsten, in welcher misere ich mich befinde, wann man morgen nicht fort kann, in welche neu Fatalité man gerathe. – Also bitte ich inständigst, mir dieses Freund Stücke zu erweisen, etwann um 30 Fl. anzulangen. Damit die Pursche nur reisen können, ich verlange nichts, dann da ich heut noch keinen bißen gegeßen, werde ich auch noch wohl den morgigen erdulden[15] können, bis man auf Freising kömmt. Verlaßen Sie mich dieses mahl nicht. Wo Sie es nicht mir zu gefallen thun wollen, so sehen Sie meine armen Kinder an. Der ich in Erwartung einer andwortt

Monsieur dienstverbundnester

Johann Schulz.


Mein Vater ward gerührt, meine Mutter nicht weniger. »Vielleicht ist dem Mann noch zu helfen. Vielleicht ist dieser Winter ihm günstig, und daß er in München gute Einnahmen hat.« Mein Vater steckte den Brief zu sich und ging hinunter zu unserm Wirt. Zieht solchen zu sich allein in ein Nebenzimmer, stellt solchem die Not des Schulzen vor und gibt ihm selbst den Brief zu lesen. Der Wirt antwortete: »Ja, Herr Schulze, es ist wahr, ich habe das gesagt. Ich bin auch willig und bereit, alles für Sie zu tun, was ich vermag. Für Sie, aber nicht für Ihren Prinzipal: der hat bei mir für keinen Batzen Kredit usw.«. Endlich sagte mein Vater: »Aber wollten Sie ihm nicht die 30 fl. leihen, wenn ich dafür gutstünde.« »Herr,« antwortete der Wirt, »was denken Sie von mir? Wenn ich Ihre Bürgschaft annehme, so wäre ich nicht Ihr Freund.« Haben Sie nicht selbst genug von Ihrem Prinzipal zu fordern? Wollen Sie sich noch tiefer mit ihm hineinstecken? Herr, geb ich ihm das Geld auf Ihre Bürgschaft, so wäre ich Ihr Feind und der Feind Ihrer Frau und Kinder. Kurz, der Wirt blieb fest auf seinem Wort, und alles Zureden half nichts. Mein Vater kam wieder zu uns auf die Stube und erzählte, wie es abgelaufen. Meine Mutter konnte dem Wirt nicht unrecht geben und sagte, S. müsse sehen, wie er sich heraushelfe. Mein Vater ging in Gedanken ein Weilchen herum, zog sich an und ging aus, ohne zu sagen wohin. Er hatte einen alten Bekannten in Landshut angetroffen, der war in Wien Ladendiener bei dem Kaufmann, wo wir unseren Kaffeezucker nahmen. Dieser junge Mann kam nach Landshut zu einem Kaufmann und heiratete nach dessen Tode die Witwe, die sich sehr gut stand. Zu diesem ging er, stellte die Not des Herrn S. vor und bat solchen um die 30 Gulden, und sagte dafür gut, daß er's bezahlen wollte, falls S. es nicht imstande wäre. Der Kaufmann antwortete: »Auf Ihre[16] Bürgschaft ja. Jetzt aber kann ich nicht, meine Frau ist zu Hause, und die ist etwas wunderlich. Machen Sie sich morgen früh einen Vorwand und kommen in meinen Laden, so will ich Ihnen das Geld geben.« Wie vergnügt kam mein Vater nach Hause und sagte: »Nun kann ich doch dem armen Mann helfen,« und gab meiner Mutter Bericht von allem, die aber keine solche Freude darüber zu erkennen gab. Ich beobachtete beide sehr genau und überlegte in meinem kleinen Kopf, wer wohl jetzt von beiden recht hätte, Papa oder Mama. Ich freute mich mit meinem Vater und war traurig mit meiner Mutter. Den Morgen ging mein Vater zeitig zu dem Kaufmann, fand aber die Frau im Laden. Er forderte ein Pfund Kaffee und Zucker und ließ sich mit ihr ins Gespräch ein. Der Mann kam dazu, trat meinem Vater näher und steckte ihm heimlich, ohne daß es seine Frau sehen konnte, die 30 fl. in die Rocktasche, ohne Handschrift, ohne die geringste Versicherung. War das nicht brav? – Gibt's jetzt noch viel solche Menschen? 30 fl., wird man sagen, ist ja nicht viel! Zu denen Zeiten waren sie es, denn man konnte damals mit 30 fl. mehr tun als jetzt mit 60. Damals schrieben wir 1749. Wenn in denen Ländern und damaligen Zeiten ein Vater seiner Tochter 1- oder 2000 Gulden Heiratsgut mitgeben konnte, so war der Vater schon ein Kapitalist. – Doch weiter! Mein Vater kam nach Haus und schickte nach dem Prinzipal, und der kam mit seiner ganzen Gesellschaft, die außer seiner Familie noch in sechs Personen oder wie viel es waren bestand. Die 30 fl. wurden unter ihnen verteilt, und nun gingen sie fort. Schulz blieb noch und fing an zu weinen. »Ja,« sagte er, »wie soll ich nun weg kommen? Ich habe keinen Kreuzer.« Mein Vater geht, kommt bald wieder, und gibt ihm einen Dukaten. Schulz nimmt solchen, sagt: »Ich empfehle mich!« Geht weg, ohne meine Eltern zu fragen: »Aber wie wollen Sie nach München kommen?« Das verdroß meine Eltern und tat ihnen weh. Kurz, meine Eltern bestellten eine Kutsche, packten ein, und so reisten wir denn von Landshut ab.

Es war Regenwetter eingefallen, und den andern Tag im Mittagsquartier trafen wir den Prinzipal mit seiner[17] Familie in den erbärmlichsten Umständen. Sie waren alle zu Fuß fortgegangen, saßen im Wirtshaus und hatten ihre Kleider an den Ofen herum gehängt, solche zu trocknen. So traurig als der Anblick war, so komisch war doch auch der Prinzipal in der weißen Weste, Allongenperücke und weißen Strümpfen, die weißen Schuhe mit rotem Band und bunten Bänder auf den Köpfen, Kopfzeuge und Toupées, Manschetten u. dergl. von den Frauensleuten. Sie mieteten sich einen leeren Mistwagen, setzten sich auf solchen und reisten weiter, wo wir sie denn nicht mehr unterwegens antrafen.

Wir kamen glücklich nach München, wo denn mein Halbbruder nebst einem gewissen Ziegeler, der mit ihm von Landshut nach München gereist, schon da war. Der Prinzipal mit den übrigen kamen auch, das Theater wurde eröffnet. Die Einnahmen blieben mittelmäßig und schlecht. Schulz mußte seine alten Stücke wegleiern, des Hausfriedens wegen. Alles Zureden half nichts, und lieber ließ er sich von den Schuldleuten und dem Hunger plagen, als von seinem häuslichen Drachen. Nach langem Banken und Laufen dankte mein Vater Gott, daß er nur die 30 fl. bekam, um solche dem Kaufmann nach Landshut zu schicken.

Nach Neujahr bekamen meine Eltern Briefe aus Erlangen von einem Herrn Weidner, der in Wien als Akteur mit ihnen auf dem Kaiserl. Theater und nun selbst Prinzipal einer Gesellschaft war. Er bot ihnen Engagement an und schrieb, wie gut er sich stünde usw. Meine Eltern brauchten sich nicht lange zu besinnen. Von Schulz hatten sie über 800 Gulden zu fordern, sahen gar nicht, wie sie, ohne noch tiefer hineinzukommen, sich retten sollten, dankten also ab und versprachen Weidnern, auf die Fasten zu kommen. Meine Eltern bekamen Reisegeld, doch das war nicht genug, und Vorschuß war zu denen Zeiten nicht Mode. Also verkauften sie einige sehr gute Gemälde, Porzellan, Spiegel u. dergl., um ihre Schulden zu bezahlen, reisten mit uns fort, und mein Vater beging dann den Fehler, sich von Schulzen keine Handschrift über die Forderung geben zu lassen. War mit dessen Wort zufrieden, daß er ihn bezahlen wollte, wenn er in bessere Umstände käme.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 12-18.
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