Ich bekomme Mut, aber er fällt auch wieder.

[61] Sonntag besuchte ich Mad. Ackermann. Sie war freundlich, sprach mir Mut ein und konnte mir nicht lebhaft genug ihre Freude bezeugen, daß sie wieder eine von ihren Alten hätte, von der sie versichert wäre durch so viele Proben, daß sie's ehrlich mit ihr meinte. Des Nachmittags sagte sie zu mir, indem sie mir ein versiegeltes Päckchen mit Geld in die Hand drückte: »Da, liebes Kind, haben Sie Ihre Gage! Ist es nicht genug, sind Sie nicht damit zufrieden, so fordern Sie mehr!« Ich: »Nein, Madame Ackermann, das ist gegen unsere Abrede. Lassen Sie mich morgen erst noch die Rolle spielen! Dann entschließen Sie sich mit Herrn Schröder bis auf den Sonnabend! Wenn Sie mich dann noch behalten wollen und können, will ich mit Dank Gage nehmen. Ach, ich habe erst einmal gespielt.« Wir stritten lange, endlich sagte sie: »Wahrhaftig, ich werde böse, wenn Sie sie nicht nehmen. Haben sie verdient! Ach, ich bin so froh, daß ich Sie wieder habe.« Ich nahm die Gage, nahm sie mit Dank.

Den Abend, da ich erst spät von ihr nach Hause kam und das Päckchen entsiegelte, wie erstaunte ich, da ich zählte zehn Taler. Ich wollte es gar nicht glauben und zählte solche drei-, viermal. Denn ich war es nicht vermuten. 10 Taler! Gute Ackermann, ich sollte mehr fordern, wenn es nicht genug wäre. Sollte nicht damit zufrieden sein? O, nie, nie fordere ich mehr. Möchte ich sie nur bald verdienen können, die Gage. Hatte, das weiß Gott der Allmächtige, auf mehr nicht gerechnet als wie auf 6 Taler, wenn ich engagiert würde, weil ich mich selbst gänzlich als eine neue Anfängerin betrachtete. Dann hätte ich auch nach unserer Abrede gesagt: »Ich nehme die 6 Taler mit Dank. Bin ich Ihnen erst brauchbarer, so geben Sie mir mehr!« – 10 Taler die Woche, gleich nach der ersten Rolle! Hast du denn wirklich so gut gespielt? Nun, so weiß ich kein Wort davon. Mußt es besser gemacht haben, als du es denken kannst.

Meine zweite Rolle spielte ich munterer und wurde in keinem Gesichte von Zuschauern Mißfallen gewahr. Auch[61] spielte ich in demselben Monat noch dreimal: die Braitfort in der »Neuesten Frauenschule« und zweimal die Hedwig im »Argwöhnischen Ehemann«, zwei schöne Rollen. Auch hörte ich über nichts klagen, als daß mein Kleid zur letzten Rolle so gar schlecht gewesen. Madame Ackermann blieb gut. Herr Schröder sagte mir nichts, sprach nichts, das mich ermuntern konnte, tat aber auch nichts, das mir den wenigen Mut hätte benehmen können. Madame Schröder war die gute Frau damals selbst, und alle in Gage stehenden Frauenzimmer waren gegen mich artig und freundlich und hatten mich lieb.

Im August spielte ich nur ein einziges Mal die Hedwig und in demselben Kleide, das man nicht an mir sehen wollte. Und das zu wissen und in Hamburg zu spielen, kann nur der fühlen, der neun Jahre Zuschauer war wie ich. Der Tag war für mich so gut, als käme ich zum ersten Male wieder hervor. Mein Mut fiel mit jeder Stunde. 10 Taler die Woche konnte mir ihn nicht geben. – Oh, hätte ich fünf und könnte mitspielen! Selbst meine Freunde sagten: »Wir wünschten, Sie spielten öfter! Sie kennen die Hamburger.« »Ja, wohl kenne ich sie. Das Eisen muß hier vorzüglich geschmiedet werden, wenn es warm ist. Aber H. Schröder wird noch nicht können.« So sagte ich und dachte es auch.

Doch wünschte ich oft, mehr zu tun zu haben, um mich zu zerstreuen. Die grausame Verfassung bei meinem kränklichen Körper und dabei die schwärzeste Melancholie! Die oft so weit gegangen, daß ich geglaubt, mein gutes Gretchen, wenn sie ins Zimmer kam, wollte mich schlagen. Wenn dann meine Freundinnen mich oft so überraschten, die gute Frau Kommissionsrätin Schmidt (sie lebt Gott sei Dank noch, ist die Schwiegermutter meines Freundes Herrn Simon Hinrichs), Madame Schütt, Mademoiselle Willers – »Ei,« so hieß es, »was soll das vorstellen? Das geht nicht.« Wider meinen Willen, denn ich war dann wie ein widerspenstiges Kind, kleideten sie mich an und schleppten mich zum Hause hinaus. Oh, welche Geduld hatten meine Freunde mit mir! Man lasse sie reden! Oh, sie lernten ordentlich meine Krankheit der Seele.

[62] Am 15. September hat sie dank einem unvorhergesehenen Zufall die Ehre, Ihre Magnifizenz den Herrn Syndikus Schubach zu sehen. Durch ihre Rückkehr zur Bühne hat sich inzwischen die Lage der Dinge verändert. Seit man weiß, wovon sie leben will, hat man weniger Grund, ihr betrügerische Absichten zuzutrauen. Von dem Syndikus wird sie nun belehrt, daß sie, da kein Ehekontrakt da ist, bei der in Hamburg geltenden Gütergemeinschaft zwischen Ehegatten keines der Präsente ihres Mannes als ihren Sonderbesitz beanspruchen und aus der Masse herausheben kann. Diese Masse wird taxiert und verkauft, und von dem Erlös bekommt die Witwe die eine Hälfte, während die andere den Verwandten zufällt. Es ist so streng, daß im Stadtbuch steht: »Wenn sie sich um den hölzernen Löffel auf dem Brette nicht vertragen können, so wird solcher in zwei Stücke zerbrochen.« Nur was sie an ihrem Hochzeitstage angehabt, darf sie vorher an sich nehmen. Die erregte Karoline findet, daß sie dann freilich klatrig wegkomme, da sie damals so simpel angezogen gewesen sei. Hätte sie das gewußt, so hätten damals alle ihre Kleider, Wäsche, Leinen und das Silber in einem Sack an ihr hängen sollen. So hat sie also gesorgt nur für gierige Verwandte?! Dafür hat sie sich in Leipzig keine Butter zu ihrem Brot und keinen Apfel gegönnt, nach ihrer schweren Arbeit »ein Stückchen Rettich gefressen«. Gut, sie unterwirft sich dem Gesetz, sie hat viel zu viel Respekt dafür. Aber ohne ihre Unterschrift sind dann auch alle Verpflichtungen ihres Mannes ungültig. Sie müsse sie und alle Bürgschaften für null und nichtig erklären. Sie bittet, das einem Hochedlen, Hochweisen Rat anzuzeigen. Sonst täte sie, was noch kein Weib in Hamburg getan, sie erschiene selbst in der Ratsstube und wiederhole ihre Erklärung vor den vier Bürgermeistern, vier Herren Syndicis, vierundzwanzig Ratsherren, Protonotariis und Herrn Sekretären frei und gerade heraus. Dann könne man sie allerdings aus der Stube herauswerfen; aber man könne ja selbst den Kaiser sprechen, warum nicht auch einen hochweisen Rat in Hamburg. Sie will die Sachen mit möglichst geringem Schaden und darum allmählich verkaufen, um die Schulden ihres Mannes desto besser bezahlen zu können. Und sie will rasche Erledigung ihres Prozesses; denn sie braucht ihre Gage, weil sie sich mit ihrem Putz ganz neu einrichten muß.

Der Syndikus versichert sie zum Schluß seiner ganzen Hochachtung und Freundschaft. Eine Frau wie sie habe er noch nicht gekannt. Sie verdiene ein besseres Schicksal. Was er zu ihrer Ruhe beitragen könne, werde er tun. Sie solle für ihre Gesundheit sorgen. Schade wär's, wenn die Welt eine Frau wie sie so bald verlieren sollte. – Ihre Freunde Hüffel und Greilich sind über ihren erfolgreichen Versuch, gegen den Strom anzuschwimmen, nicht wenig erstaunt. Aber sie will und muß der Wahrheit auf den bloßen Leib. Alle schönen Masken, die die feine Welt aus Politik anlegt, dürfen sie nicht beirren.

[63] Indessen wird sie von Krankheit, wütenden Schmerzen und Sorgen doch so sehr gequält, daß sie einmal schon von ihrem Bett aus nach einem Werkzeug im Fenster greift, um Selbstmord zu begehen. Da ergreift ihre Hand hinterm Vorhang Neumeisters Kommunionbuch. Sie schlägt auf und trifft den Gesang »Was hilft's, daß ich mich quäle«. Wie sie vier Strophen gelesen, tritt ihr Gretchen herein. Aber wie erschrickt sie beim Anblick ihrer Herrin. Wild hingen ihre langen Haare um den Kopf, sie war darin eingehüllt wie in einen Mantel. Sie mochte aussehen, wie das Bild einer büßenden Magdalena.

In diesem Zustand findet sie auch der Schreiber von Abendroth vor, der eben bittet, vorgelassen zu werden. Er taumelt zurück, lehnt sich an die Wand; Tränen kamen in des Mannes Augen, gewiß die ersten seit langer Zeit. Abendroth läßt sie bitten, die letzte Schrift, die er im Namen der Familie zum Rat eingegeben, unbeantwortet zu lassen. Er und die Familie träten die Erbschaft ab an sie. – Freuen kann sie sich zwar nicht. Aber in ihrem Glauben fühlt sie sich doch sehr gestärkt. Es war den Erben von hoher Hand zu verstehen gegeben, sie möchten sich doch nicht länger prostituieren. Sie wäre ja wieder auf dem Theater, wo sie Brot hätte. Man könne ja sehen, wie sie sich benehmen würde, ob Klagen gegen sie kämen. Mache sie Putzenmacherstreiche (soviel als Betrügerei), so würde man sie schon zu finden wissen.

Obgleich die Schuldenlast so bedeutend ist, daß ihr der Kopf schwindelt, übernimmt sie noch einen Teil der Prozeßkosten. Schwager Abendroth legt ihr zum Dank dafür wieder einen gemeinen Fallstrick, dem sie jedoch klug entgeht. Dafür findet sie aber bei Fremden und Freunden so viel Mitleid, Liebe und Vertrauen, daß die Schulden auf ein erträglicheres Maß zusammenschmelzen und ihre Bezahlung sich besser auf die Folgezeit verteilt. So schloß das Jahr mit den drei bösen Sieben ab.

Jetzt muß ich mich wieder zu meiner theatralischen Verfassung wenden. Einmal hatte ich im Augustmonat mitgespielt und zweimal im September eine neue Rolle: in »Wissenschaft geht vor Schönheit« die Karoline und die Hedwig wieder. Daß H. Schröder meine Bitte so ganz vergessen, mich womöglich in der ersten Zeit öfter spielen zu lassen, konnten viele Umstände ihn hindern. Aber freilich, wenn er wollte, was war, was ist einem Schröder nicht möglich?! Meinen häuslichen Umständen nach war es besser, in Hamburg zu bleiben. Hamburger Taler war ich schuldig, und mit Hamburger Geld erhielt ich meine 10 Taler Gage. Erfüllte ich die Wünsche meines Bruders und fühlte ich schon[64] selbst seine Besorgnis: »Du hältst es jetzt nicht mehr aus; denke an die alten vergangenen Zeiten,« so wünschte ich meiner Konvenienz wegen, wenn es nur halbwegs auszuhalten wäre, in Hamburg zu bleiben. 5 Taler in Leipzig und in Dresden ist oft hier nicht mehr wie 4 Tl. 8 Gro., in Mainz und Frankfurt gar 6 Tl. Wieviel mußt du zulegen, ehe 5 Hamburger Taler herauskommen! Aber hier so ganz das fünfte Rad am Wagen zu sein, das wird gar nicht gehen! – Geduld, wird sich ja aufklären. Mache dir nicht noch mehr Sorgen; hast davon mehr als genug.

Nun kam ein Vorfall, der mir mehr Nachdenken verursachte und verursachen mußte. Vieles hatte ich schon in den 10 Wochen erduldet. Aber das ging nicht; ich mußte wissen, woran ich war. Ich hatte ja H. Schröder mein Wort gegeben, daß, wenn sich was ereignete, wodurch ich glaubte, gekränkt zu sein, ich es sagen würde. Ich hielt Wort und schrieb H. Schröder ein Billett, gewiß nicht ein Wort, das ihn beleidigen konnte: ich wollte nur wissen, woran ich wäre. Ob meines Bleibens bei dem Hamburger Theater sein könnte oder nicht, damit ich meine Einrichtung danach machen könnte. Herr Schröder antwortete mir. Aber auf das, was er mir schrieb, wollte ich ihm nicht antworten; denn die Antwort hatte mein Billett nicht verdient.

O Kummerfeld, gehe fort! Bewahre mich Gott vor solch einem Hiersein!

Den Morgen darauf gehe ich zu Mad. Ackermann. »Liebe Madame Ackermann, ich möchte gern wissen, woran ich bin.« Jetzt erzählte ich ihr den ganzen Vorfall. Darauf gab ich ihr die Abschrift meines Billetts und H. Schröders Antwort zu lesen. Ihre Madem. Tochter war gegenwärtig. »Verdiente ich die? Sie haben mich engagiert, nicht H. Schröder; also muß ich mit Ihnen sprechen. Sagen Sie es mir gerade heraus! Was soll ich mit einer eingerichteten Wirtschaft, wenn meines Bleibens nur auf ein halbes oder ein ganzes Jahr sein soll? Noch ist es Zeit. Ich verkaufe dann alles. Was ich an mein kleines Haus verwandt, kann ich und will es verschmerzen. Noch ist nichts tapeziert. Ich komme, wenn ich nicht einziehe, mit einer vierteljährigen Miete vielleicht[65] davon, wenn ich für das, was ich darinnen habe machen lassen, nichts abziehe. Noch ist's Zeit, um aufzusagen. Nur bitte ich Sie bei aller Freundschaft, um Gotteswillen bitte ich Sie, seien Sie aufrichtig und setzen mich nicht in noch größere Verlegenheit. Arbeiten muß ich. Mit Sünden kann ich keine Gage nehmen, mich nicht ansehen lassen als das fünfte Rad am Wagen. Ihnen eine Last zu sein, da bewahre mich Gott!«

Kein Wort, was mir Madame Ackermann geantwortet, soll aus meinem Gedächtnis verwischt sein. Nur das, daß sie mich bei Gott versicherte, sie hätte davon nichts gewußt! Nochmals wiederholte sie, wie froh sie wäre, daß sie mich wieder hätte. Daß ich nicht von ihr weg sollte und daß sie mit ihrem Sohn sprechen wollte usw. »Aber, Madame Ackermann, ohne Verbitterung! Ueberlegen Sie es beide zusammen! Herr Schröder ist Ihnen näher wie ich. Nur wünsche ich, vor meiner Auktion es zu wissen. Wir bleiben Freunde, und wenn ich in acht Tagen aufhören sollte, bei Ihrem Theater zu sein. Lieber fort, als in Unfriede hier!«

Jetzt machte ich neue Pläne und dachte an mein Wegreisen. Ganz war ich darauf gefaßt, daß man sagen sollte: »Gehen Sie!« Und Gott der Allwissende ist mein Zeuge, ich wünschte es. Wenn ich in Hamburg müßig hätte herumgehen wollen, oh, hätte ich's ohne Theater gekonnt. Mehr Menschenfreunde, als ich zählen konnte, hatte mein Unglück gerührt, da mein Mann starb. Von einer Subskription war die Rede, mein Mann war noch nicht begraben. Hunderte von wohltätigen Händen würden sich gefunden haben zum Unterschreiben. Ich verbat es und schlug es aus.

Faullenzend annehmen, heißt, nicht nur den Geber, sondern auch den Dürftigeren bestehlen.

Montag ging ich aufs Theater. H. Schröder kam mir entgegen und sagte: »Mad. Kummerfeld, meine Absicht war nicht, Sie zu beleidigen. Ich hatte es aus Zerstreuung bei meiner vielen Arbeit vergessen. So wahr Gott lebt, mir ist es leid.« Ich: »Herr Schröder, sobald Sie sagen, Sie haben es vergessen, so ist es gut; wollten mich nicht kränken, und es wäre Ihnen leid, so ist alles vorbei. Ich bin wieder die alte[66] und habe keinen Groll, und alles ist nun wieder gut. Nach unserer Abrede mußte ich es tun, konnten Sie es mir nicht verdenken. Setzen Sie sich an meine Stelle! Ich mußte fragen, woran ich bin.« »Nein, das kann ich nicht, kann's Ihnen nicht verdenken,« war seine Antwort. Freundschaftlich gaben wir uns die Hände. Herr Schröder schien gerührt. Ich war's wirklich. Ich war wieder fröhlich und hoffte: es wird ja wohl einmal alles besser werden.

In tiefer Verbitterung verlebt sie ihren Geburtstag. Nicht nur, daß ihre Lieben nicht mehr sind oder fern weilen; von den Freunden, die ehemals ihre Gäste gewesen, läßt sich keiner sehen. Sie ist keine von denen, die philosophieren, und sagen, es ist ein Tag wie jeder andere.

Von heute an hat für dich, so lange du in Hamburg bist, kein Mensch in Hamburg mehr einen Geburtstag. Oh, mögen sie alle, wenn die Feiertage kommen, sich schmiegen und ihre heuchlerischen Komplimente anbringen. Du sollst nicht mit dabei sein. Du gehörst nicht unter die Menschen. Würdest du schweigen können, wenn sie mit ihren gekünstelten Tränen im Auge, mit honigsüßen Worten im Munde und Galle im Herzen Glück wünschen? Oh, die Teufel in Engelgestalten! –

Ruhe und guten Schlaf bekommt sie erst wieder, als sie am 17. Oktober ihr Tränenhaus hat verlassen und ein bescheidenes Häuschen beziehen können.

Das Gerücht breitete sich nun zur Gewißheit aus, daß Mademoiselle Ackermann vom Theater abgehen und sich verehelichen würde. Meine Freunde sagten: »Dann bekommen Sie gewiß mehr zu tun.« Ich hoffte es auch; aber es blieb bei der Hoffnung. Zum Teil hatte ich hübsche Rollen und keine schlechte, aber auch keine, wodurch man sich, wenn man sie glücklich spielt, Ruhm erwerben konnte. 17 Rollen hatte ich in einem runden Jahr bekommen. Die erste rechnete ich nicht mehr zu den meinigen. 4–5 Wochen ging ich oft müßig. Wenn mir die Gage geschickt wurde, wurde ich immer rot und schämte mich, solche zu nehmen. Nahm sie oft mit Tränen und sah sie an als ein Almosen, das der beglückte Reiche dem edel sich fühlenden Aermeren gibt. Oft versteckte ich mich, und mein Mädchen mußte sie in Empfang[67] nehmen. Ich konnte dem Publikum unter solchen Umständen nie gewohnt werden, und mir das Publikum nicht; denn mit Vorurteil gegen dasselbe und gegen mich trat ich auf. Und wie konnte ich anders, wenn man zu mir sagte: »Die letzte Rolle haben Sie recht hübsch gespielt, Sie wären auch gewiß applaudiert worden, aber man will Mademoiselle Ackermann nicht böse machen, weil sie nur noch eine kurze Zeit bei dem Theater ist.« Man denke ja nicht, daß das von mir ein satyrischer oder witziger Einfall sein soll. Ich schreibe Wahrheit. Nun laß den Künstler auftreten und mit Lust spielen, wenn man so zu ihm spricht.

Schmeicheln konnte ich nicht, mich schmiegen und kriechen noch weniger. Ich hätte mehr politisch sein müssen. Aber dazu war ich nun einmal verdorben. Ich gratulierte zu keinem Geburtstag; ich gratulierte nicht zur Hochzeit, und da konnte ich auch nicht anders handeln. Denn einmal wollte ich nur fragen, ob es an dem wäre, daß Mademoiselle Ackermann Braut sei, so fuhr Mad. Ackermann auf und sagte, sie wisse von nichts, und war das erste finstere Gesicht, das sie mir gemacht, seitdem ich das zweitemal bei ihr engagiert war. Nun dachte ich, ich sollte es nicht wissen, sollte für mich ein Geheimnis sein. Es waren bald 20 Jahre, daß wir uns kannten. Mich dünkt, ich wär's doch auch wert gewesen, so gut wie andere, daß man zu mir gesagt hätte: »Meine Tochter verehelicht sich,« oder von Mademoiselle: »Ich heirate.« So schwieg ich also auch still, ließ Hochzeit machen, war die einzige, die nichts sagte, nichts gefragt hat. War freilich unpolitisch, doch lieber unpolitisch, nur nicht falsch. Denn gelassen hätte ich es nicht und hätte doch eine Anmerkung gemacht. Also blieb ich lieber zu Hause.

Nun kam noch dazu, daß man wußte, ich wäre niemandem in Hamburg was schuldig, die Rente von 200 Mark auf der Kammer stand. Man glaubte nun nicht, daß mir die Not auf dem Theater zu bleiben befahl. Mithin stand ich als ein Vorwurf da, weil meine auswärtigen Schulden auch meinen besten Freunden ein Geheimnis blieben. Ich konnte nie klagen. Kann's noch nicht, so lange ich nicht unter der[68] Last zu erliegen glaube. Doch auch das, daß meine Glücksumstände besser schienen, als sie waren, hätte mir noch nicht ganz schaden können, hätte ich nur einmal eine rechte gute, vorzüglich gute, sogenannte dankbare Rolle haben können. Das ganze Publikum hätte mit Vorurteil gegen mich in die Komödie kommen sollen, hätte sogar den Morgen auf der Börse und in allen Kaffeehäusern sagen sollen: »Nun, heute abend bekommen wir was zu lachen, die Kummerfeld will die Rolle spielen! Hat ihr ganzes Spiel verlernt! Wollen aber doch hineingehen.«

Das Haus wäre voll geworden, das weiß ich. Vor dem Stück aber hätte ich herauskommen müssen, schüchtern, demütig und voll Ehrfurcht. Hätte, nachdem ich mich einige Male bis zur Erde gebückt, gesagt: »Ich wage es heute, vor dem einsichtsvollsten Publikum die große, schwere Rolle zu spielen. Ich fühlte, daß ich solcher nicht gewachsen sei, daß ich in den 9 Jahren, die ich von dem Theater gewesen, alle die wenigen Talente, die ich vielleicht zu der Zeit könnte gehabt haben, vergessen. Aber Hamburgs Kenner, nachsichtsvolle Kenner, die so manchen ihrer Lieblingsschauspieler gezogen, – der herkam als ein Schafskopf, und Sie, Sie einsichtsvolle Kenner haben ihn gezogen, gebildet, und er ist durch Sie geworden, was er ist – warum sollte ich nicht hoffen, durch Ihre Zucht auch noch etwas wieder zu werden, wenn Sie nur die Großmut haben, einige Zeit Geduld mit meinen Fehlern zu haben, die ich gerne mit aller bescheidenen Demut abzulegen gewilligt bin. Schlagen Sie in mir, ich bitte Sie, diese Hoffnung nicht nieder, nie wird und kann mein Dank aufhören« usw.

So vor der Aufführung der Hauptrolle den Brei zurechtgemacht und ihnen solchen in den Mund gestrichen, so die Nüsse und Kastanien vergüldet und sie damit spielen lassen. Ja, die Kummerfeld hätte die Hauptrolle gespielt mit Beifall, wie ihn keine vor ihr gehabt. Wenn das Stück wäre aus gewesen, hätte man gesagt: »Nein, fürwahr, sie hat's gut gemacht. Das hätten wir nicht geglaubt. Sie muß aufgenommen werden, sie verdient es.«[69]

So, mein Leser, war das Publikum in Hamburg zu meiner Zeit beschaffen, so mußte man mit ihm umgehen. Wenn es sich beleidigt glaubte, selbst von ihren Lieblingsschauspielerinnen, so ließen sie es sie fühlen. Nicht etwa in einer Rolle! O nein! Die zwo Demoiselles Ackermann, die ihre großen Verdienste hatten, spielten ein rundes Jahr so. Der älteren Mademoiselle ihres ging eher zu Ende, weil es früher angefangen. Der Charlotte Ackermann ihres aber dauerte vom 11. Mai 1774 bis zum 8. Mai 1775. Da sollte es sich auf den 10. enden. Es endete auch; denn sie starb den 10. Mai, und nun konnte es nicht wieder gut gemacht werden.

Das ganze Publikum, wovon das Schicksal des Schauspielers, es sei gut oder böse, abhängt, besteht manchmal nur aus wenigen Personen. Die machen sich oft so unnütz im Parterre und nehmen sich viele Gurken heraus, daß sie oft verdient hätten, aus dem Schauspielhaus herausgewiesen zu werden. Ehe ich noch daran denken konnte, daß ich je wieder selbst aufs Theater gehen würde, nannten die Schauspieler bei der Ackermannschen Gesellschaft solche: das gelehrte Bändchen. Mehr als einmal – ich rufe Herrn Simon Hinrichs, der noch lebt, zum Zeugen – sagte ich zu ihm, wie das Komplott gegen die zwo Demoiselles Ackermann war: »Lieber Herr Hinrichs, heute haben unsere Ackermanns gute Rollen. Spielen sie gut, wir wollen ihnen recht applaudieren.« Herr Hinrichs ging in alle Logen, wo er seine Bekannten hatte, und nahm dieselbe Abrede. Die Mädchen spielten, spielten schön! Wir applaudierten. Das gelehrte Bändchen sah nach unsern Logen und rief ein »Schü – Schü!« Kurz, stampften mit den Stöcken, lachten laut und wollten uns Stillschweigen gebieten. In die Gesichter verspottete ich sie aus meiner Loge. Wie oft, wenn Dorothea Ackermann eine große Arie in einer Oper zu singen hatte, verhöhnten sie sie so sehr, daß sie die Kadenze nicht ausmachte, nicht ausmachen konnte und mit Tränen vom Theater ging.

Was empfand ich? Hatte manchen Abend vor Aerger nicht essen können. Mein Mann sagte: »Nein, so ein Weib[70] lebt nicht mehr. Was geht es dich an?« »Ich kann solche Ungerechtigkeiten nicht ansehen.« Oh, so sagte ich oft bei jeder Gelegenheit die Wahrheit laut und machte mir aus Liebe zur Wahrheit manchen zum Feinde. Nun trat ich selbst wieder aufs Theater. Konnten die meine Freunde sein, nicht einmal Freunde, nur unparteiisch? Das war das Hamburger Publikum zu meiner Zeit in Hamburg. Doch das gelehrte Bändchen mag zum Teil ausgestorben und nun auch älter und vernünftiger geworden sei, sich auch vielleicht jetzt seiner Jugendstreiche schämen. Aber ganz ausgerottet muß es nicht sein, muß Nachahmer gefunden haben; denn die Geschichte des Herrn Schröder wegen der Mademoiselle Boudet bekräftigt noch zum Ueberfluß das, was ich gesagt.

Oh, es ist ein großer Unterschied von nicht gefallen und nicht gefallen sollen. Was ich gesagt, erklärt zum Teil die Worte meines Briefes im diesjährigen Theaterkalender: »Mit Ruhm habe ich gespielt da, wo man mich hat wollen spielen lassen; aber in Hamburg war Sollen und Wollen gegen mich.« Ich würde nie fertig; denn Stoff hätte ich, noch so ein Buch zu schreiben, wenn ich alle Kränkungen rügen wollte. Satt hatte ich's. Noch hatte ich an kein anderes Theater geschrieben; denn auch das war mir zu klein, zu niedrig, den Stuhl vor die Tür zu setzen, wenn man schon weiß, ob man sich nach Osten oder Süden zu wenden hat. Nicht mein Bruder wußte davon und keiner meiner Freunde.

Den 26. August, gerade an dem Tage, da es 20 Jahre waren, daß ich Madame Ackermann zum ersten Male sah, schickte ich ihr einen Brief und bat um meine Entlassung; denn das hielte ich nicht aus, wenn es nicht anders ins Künftige sein könnte. Und wenn solche auf der Stelle erfolgt wäre, wir wär's recht gewesen. Herr Schröder antwortete mir, daß man Michaeli mit mir gesprochen hätte, daß das Publikum nach dem Advent, wie die »Gunst der Fürsten« gegeben worden, sich nach der ersten Vorstellung (bei der Rolle der Nottingham) fast allgemein gegen mich[71] erklärt. »Man tadelte zwei Fehler.« Und fügte hinzu: »Denn gegen die Richtigkeit Ihres Spiels und Akzentuation habe ich und vermutlich keiner das mindeste zu sagen.«

Wenn das selbst ein Schröder von mir sagte, mir die Gerechtigkeit bei meinem damals noch ängstlichen Spiel mußte widerfahren lassen, oh, so konnte ich doch wohl mit Recht dem Verfasser im Theaterkalender schreiben: »Gut wär's für manchen bei dem Theater, wenn er imstande wäre, mein veraltetes Spiel sich zu geben.« Mir war wohl, daß es nur die Rolle der Nottingham war, wo sich das Publikum gegen mich erklärt. Das machte mir Freude. Die Rolle spielst du so bald nicht wieder. Hm! Hm! Madame Stark fiel mir ein, die mir denselben Abend gesagt hatte: Wie Sie der Königin den Ring gaben, Kummerfeld, das war ein Meisterstück. Das Publikum, das sich gegen mich erklärt hatte, sah und fühlte dasselbe wie Madame Stark. Aber es durfte nichts bemerken, Demoiselle Ackermann nicht böse zu machen, weil sie nur noch wenige Monate bei dem Theater wäre! Wie das Stück den andern Tag wieder gegeben wurde und wir beide bald hinausgehen wollten, sagte sie: »Suchen Sie nicht so lange nach dem Ring!« Ich: »Suchen? Da, sehen Sie, ich habe ihn schon in der Hand.« Mademoiselle Ackermann: »Nun, so lassen Sie mich nicht so lange darauf warten!« Ich: »Mademoiselle Ackermann! Die Nottingham, die ich heute spiele, hat kein Gift getrunken. Ihr Kopf steht auf dem Spiel, sie sieht sich verraten und braucht etwas längere Zeit, ehe sie den Ring hingibt. Die Nottingaber, die das Gift getrunken, der die Königin das Leben nicht nehmen kann, weil der Tod in ihr bereits ist, gibt den Ring gleich und sagt nur nach einer kleinen Pause: ›Hier Ihro Majestät!‹« Mademoiselle Ackermann nahm's übel, wie gewöhnlich, murmelte etwas von Rechthaben und Besserverstehen, und wir gingen heraus. Wie nun die Stelle kam und ich sie wieder so machen wollte, stampfte sie, die Königin, mit dem Fuß und sagte: »Nu!!« Mit einem mitleidigen Lächeln sah ich die Majestät an und – gab ihr den Ring.[72]

Die arme Kummerfeld! Das ganze Publikum hatte sich doch den Abend vorher in der Rolle gegen sie erklärt und sie sollte auch gar nichts gut machen. Ja, wäre mir nur die Rolle mißlungen. Ihretwegen hätte ich dann gar nicht lange genug nach dem Ring suchen können. Oh, es wäre viel, viel zu sagen. Gott vergebe es allen! Seid bei eurem vielen Gelde, seid bei eurem reichen Privatstande so glücklich, wenn ihr's könnt, wie ich in meiner Nähschule mit meinen guten Kindern.

Ich nahm mich wohl in acht, nichts von dem Herrn Schröder zu schreiben. Wurde mir schwer; aber ich versuchte, auch einmal politisch zu sein, und es gelang mir. Denn freilich, mein Gesicht hätte man nicht sehen dürfen. Und das sah man nicht; denn ich schrieb und bat, da Madame Mecour nicht mehr bei der Gesellschaft war, um die Rolle der Roxelane. Sie hatte sie gespielt. Ich hoffte auf die Neugierde der Hamburger, daß das Haus voll würde, wenn ich die Rolle wieder spielte. Denn der Gedanke war mir der allerschwerste, so viel Gage gezogen und solche nicht auch wieder eingebracht zu haben. So aber hoffte ich: Bekommst du die Roxelane zu spielen, so hast du mit deiner ersten Rolle und mit dieser dann den Schaden und was du der Ackermann gekostet, wieder ersetzt. Herr Schröder sagte ja. Oh, so glücklich war ich lange nicht gewesen. Und was meine Freude vervollkommnen mochte, so wurde »Soliman der Zweite« am 30. September gespielt. Das war mir wieder ein Geburtstag! Das ganze Haus war voll, zum ersten Male wieder voll, seitdem Mademoiselle Ackermann den 19. Junius zum letzten Male gespielt. Ich war zum ersten Male wieder mit ganzer Seele dabei; auch merkte ich nicht an dem Beifall, den man mir schenkte, daß mein Spiel gealtert. Den Abend nach der Komödie traktierte ich mich auch mit 25 der schönsten Austern und trank ein paar Gläser alten Rheinweins aufs Wohl von allen, die heute abend in der Komödie waren. Das Stück wurde im Oktober wieder gegeben, es war nicht so voll, aber doch eine gute Einnahme.[73]

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 61-74.
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