166.

[129] Aber lenken Sie auch diese edle Empfindsamkeit nicht etwa nur auf schauerliche Gegenstände[129] hin, oder affektiren Sie nicht gar, was so häufig bei den lebhaft empfindenden Leuten angetroffen wird, melancholisch und leidend scheinen zu wollen. Es ist dies eine gewöhnliche Jugendschwärmerei; man hat das leidende Gesicht; den leidenden Zug interessant nennen hören, und nun will man sich dieses Interessante so gern verschaffen; man möchte nun schon gern und recht viel gelitten haben. Ueberzeugen Sie sich davon, es ist eine kranke Seele und kränkelnder Geschmack, welcher den Zug von ganzer Seele schön findet, und sich darin gleichsam verliebt. Es giebt die Schwermuth zwar dem Gesicht und seinen Zügen etwas Sanftes, Mitleiden Erregendes, und Mitleiden war und ist freilich oft der erste Schritt zur Liebe, wir finden das Gesicht eben darum lieblich und angenehm, wir interessiren uns dafür, weil wir seine Noth zu mindern wünschten; allein nie wird auch die Kunst und Affektation diesen Zug eben so treu nachahmen können, oder sie müßte die Einbildungskraft selbst erst wirklich mit Kummer nähren, das heißt, sie wirklich kummervoll und krank machen. Sehen Sie glücklich und heiter aus, das lehrt die Klugheit, wie ich Ihnen schon oben zeigte, und es ist unsere Pflicht, da wir uns bestreben sollen, unsern Mitmenschen Freude zu machen, und uns selbst denn zur Freundlichkeit und Heiterkeit in Gegenwart anderer stimmen sollten, wenn wir wirklichen innern Kummer und Ursach zur Traurigkeit hätten. Der Zug der Schwermuth wird doch[130] oft genug, nach dem Ausducke des Dichters in unser Gesicht hineingefurcht, warum wollten Sie ihn mit Kunst hineinbringen! Auch ist ja der kummervolle Zug, weil der Kummer selbst Unvollkommenheit des Lebens ist, eine unvollkommene Schönheit wenn man es ja Schönheit nennen wollte.

Quelle:
Siede, Johann Christian: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit. Dessau 1797, S. 129-131.
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