22.

[61] Bescheidenheit, die nicht frech und Prätensionsvoll um sich blickt, aber auch nicht immer schüchtern und kriechend das Auge niederschlägt, sondern ruhig, ernst, einem jeden offen, aber nicht stark, und mit einer höflichen aufmerksamen Miene ins Gesicht sieht; das Lob, das man ihr ertheilen wird, nicht durch ein bedeutendes, selbstgenügsames Umhersehn fordert, und sich so den Kranz schon vorher nimmt; die sich nicht gleich beleidigt fühlt, und dies etwa gar durch Naserümpfen ausläßt, wenn andre mehr gelobt werden, oder sie gar verkannt würde: alle diese feinen Nüanzen in dem bescheidenem Blikke und in der Miene, sind wahre Schönheiten in dem Gesichte des jungen Mannes, von dem man überhaupt in jeder Hinsicht Bescheidenheit fordert, die seinen etwanigen Verdiensten auch erst den wahren Glanz giebt.

Quelle:
Siede, Johann Christian: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit. Dessau 1797, S. 61.
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