Der Fremde,

[65] den man hat, ist ja auch nur eine Person, aber er hat alle Vorzüge, auf welche der Logierbesuch opferfreudig verzichtet, weil er sich nicht einbildet, daß er die Pflicht habe, sich angenehm zu machen.

Wer verheiratet ist, habe dann und wann einen Fremden. Ein Fremder in der Hand ist angenehmer[65] als zehn Logierbesuche unter dem Dach. Dies ist so richtig, daß man den Fremden erfinden muß, wenn er nicht existiert. Ein aus der Luft gegriffener Fremder ist sogar nützlicher als einer von Fleisch und Blut. Wer hiervon nicht überzeugt ist, erfinde einmal einen. Die Not macht ja erfinderisch. Hat man ihn erfunden, so hat man nur noch der Gattin zu sagen, man möchte ihn nicht einladen, weil er sehr anspruchsvoll sei, nach Notwein rieche und den Salon für einen Aschenbecher halte. Dann kann man mit Freuden und mit Nutzen diese Erfindung auskosten.

Hat man einen Fremden, so ist man für einige Tage der Häuslichkeit entrückt, wenn hierzu ein Verlangen vorliegt. Ein Fremder, er sei erfunden oder Wirklichkeit, ist der Storch, der die Freiheit bringt.

Den wirklichen Fremden kündige man der Gattin unter den Ausdrücken des tiefsten Bedauerns darüber an, daß er durch seine, wenn auch kurze, Anwesenheit das Familienband lockern, die häusliche Ordnung umstoßen und namentlich die Abende erbarmungslos in Anspruch nehmen wird.

Der Fremde giebt sich gern als verwöhnt, um den Freund zu Anstrengungen zu zwingen. Man nehme das nicht ernst. In seiner Heimat ist der Regen nicht nasser als in Berlin.

Selbstverständlich ist, daß man ihn vorzugsweise dahin führt, wo man noch nicht gewesen ist und nur in Gesellschaft eines erwachsenen Fremden erscheinen kann. Es ist merkwürdig, wie viele solcher Lokalitäten in Berlin existieren. Der Gattin schildere man sie als langweilig, was ihr angenehm ist, obschon sie daran zweifelt.

Hat man irgend etwas zu thun, wobei der Fremde überflüssig ist, so stelle man ihn vor dem Brandenburger Thor oder zwischen Charlotten- und Friedrichstraße auf und sage ihm, der Kaiser werde gleich[66] vorüberfahren. Bis der Kaiser vorüberfährt, hat man eine gute Stunde vor dem Fremden Ruhe.

Kommt der Fremde aus einer kleinen Stadt, so findet er, wie der Logierbesuch, an Berlin viel auszusetzen. Man stimme in jeden, meist blödsinnigen Tadel ein, um ihn bei guter Laune zu erhalten. Er amüsiert sich nur, wenn er Berlin rüffeln kann, abgesehen davon, daß man sich im anderen Fall langweilte, indem man, wenn er Berlin herausstriche, lauter Dinge hören müßte, die man längst und besser kennt.

Will der Fremde ins Theater gehen, so empfehle man ihm ein Stück, das man schon gesehen hat, weil er nicht darauf eingeht, sondern ein anderes Stück wählt, das man vielleicht noch nicht gesehen hat.

Man unterschätze die Schwierigkeit der Führung nicht. Wenn man einen aus einer kleinen Stadt gebürtigen Fremden in das Linden-Café führte, keinen Platz fände und wieder mit ihm fortgehen müßte, so wird er sich trotzdem das genannte Café voller gedacht haben. Er wird hinzusetzen, daß über Berlin doch manche falsche Nachricht verbreitet sei.

Will der Fremde das Innere der Schlösser sehen, so sage man ihm, sie seien bis Ende nächsten Monats wegen baulicher Arbeiten geschlossen. Das klingt glaubhaft. Nur wenn er die kolossale Arbeit allein verrichten will, ermuntere man ihn noch obenein und freue sich, davonzukommen.

Der Fremde pflegt einen längeren Zettel mitzubringen, welcher das Menu der Sehenswürdigkeiten bildet, von denen er keine versäumen möchte. Darunter befinden sich solche, welche der Berliner selbst nur selten aufsucht, z.B. der Juliusturm, das Wohnhaus des alten Derfflinger, der Platz, auf welchem die Spittelkirche gestanden hat, u.s.w. Da der Zettel jeden Augenblick aus der Tasche genommen werden kann, so sei man auf eine Ausrede vorbereitet.[67]

Will man den Fremden zum Frühstück einladen, so führe man ihn, um ihm zugleich ein buntes Stück Volksleben zu zeigen, zu Aschinger. Wenn der Fremde sich durch eine Einladung revanchieren will, so schlage man ihm Dressel oder Hiller vor mit dem Bemerken, daß es auch dort nicht an Volksleben fehle. Man sei überhaupt nicht zu sparsam mit der Kasse des Fremden, denn der Geiz macht allemal einen widerlichen Eindruck.

Reist der Fremde wieder ab, so nehme man zum Bahnhof ein sauberes Taschentuch mit. Denn es giebt wenige irdische Freuden, welche der einer solchen Begleitung gleichen, und man könnte sich doch derselben derart überlassen, daß man dem absausenden Zug mit dem Taschentuch nachwinkt. Dann ist es gut, daß das Taschentuch sich sehen lassen kann.

Wir haben vielleicht zu lange bei diesen beiden einzelnen Herren verweilt und beeilen uns, zu den großen und figurenreichen Veranstaltungen zurückzukehren, deren anstrengendste die

Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 65-68.
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