Wirtshäusern

[93] ist nur Ein Schritt, namentlich für die Künstler. Aber auch diejenigen, welche nicht Künstler sind, pflegen solche Oasen in der Wüste des Berufslebens gern aufzusuchen. Es ist daher geboten, dies im allgemeinen Interesse hier zu berücksichtigen.

Es giebt für die Wirtshäuser Ratschläge, die nicht erteilt zu werden brauchen, weil jeder gewiegte Gast sie sich selbst giebt. Der erste ist der: Man hänge den Paletot an eine Stelle, die man immer im Auge hat, um bereit zu sein, wenn sich der Paletotmarder[93] nähert. Der Paletotmarder hat ein feines Gefühl für die Aufsicht, unter der sich das genannte Kleidungsstück befindet. Aber die Gefahr ist immer groß, denn es ist noch nicht vorgekommen, daß jemand zwei Paletots anstatt eines oder einen besseren vorgefunden hat. Dasselbe gilt von den Schirmen und Stöcken. Den Stock behalte man überhaupt bei sich, denn man kann nicht wissen, wozu man ihn braucht.

Rief man längere Zeit vergeblich nach dem Kellner, so stoße man den Schrei aus: Zahlen! Alsbald erscheint der Zahlkellner, bei dem man dann die betreffende Bestellung anbringt.

Ist ein Kellner grob, so freue man sich, nicht der Kellner zu sein, denn dieser bekommt dann größere Grobheiten zu hören.

Wenn man ein Freund der Musik sein sollte und dies bleiben möchte, so gehe man in kein Wirtshaus, in welchem Musik ist, denn dann wird man ihr Feind.

Sieht man gern illustrierte Zeitungen an, so bestelle man das neueste Abendblatt. Da dies nicht frei ist, bekommt man sofort die »Leipziger Illustrierte Zeitung«.

Den Buffetdamen, namentlich in der Bar, mache man nicht den Hof. Diese geplagten Wesen möchten doch auch einmal eine Abwechslung haben.

Man politisiere im Wirtshaus nicht, weil es vergebliche Arbeit ist. Denn an den Stammtischen sitzen immer die größten Politiker der Gegenwart, die spätestens um zehn Uhr abends alles geordnet haben.

Will man sicher sein, in einem Restaurant, das man bisher nicht besucht hat, Bekannte zu treffen, so betrete man es in Begleitung einer Dame, mit der man nicht gesehen sein will. Sofort sieht man die gewünschten Bekannten, oder doch wenigstens einen. Ist man dann zufällig überzeugt, daß die betreffende[94] Dame von keiner Seele in der Stadt gekannt ist, so pflegt nicht ein einziger Gast anwesend zu sein, der sie nicht ziemlich genau kennt.

Bestellt man sein Leibgericht, so ist es gestrichen. Also bestelle man es nicht.

Merkt man in dem Augenblicke, wo man etwas bestellen will, daß man kein Geld bei sich hat, weil man auch keins zu Hause hat, und fehlt einem auch der beliebte Kellnerkredit, so sage man sich dies mehrmals hintereinander, und es vergeht einem der Appetit.

Wird man vom Hunger verleitet, Zechpreller zu werden, so ist es kein anständiger Hunger. Läßt man sich aber verleiten, so sei man sicher, vom Kellner erwischt zu werden, denn der Zechpreller ist mit der Zeit dumm geworden. Es giebt überhaupt so viele Arten ungefährlicher Zechprellerei, daß man erstaunen muß, wie sich noch jemand der alten und gefährlichen Art bedienen kann. Jeder hat wohl in seiner Bekanntschaft einen Zechpreller, der sich ohne das geringste Risiko Speisen und Getränke zu verschaffen weiß. Außer der gewöhnlichsten Zechprellerei, die darin besteht, daß man unbefangen an einen Tisch herantritt, an welchem ein guter Freund speist und unter der Versicherung, man habe schon gespeist, die freundliche Einladung des nicht gern allein speisenden Freundes annimmt und dann wie für das Vaterland einhaut, möchte ich hier für diejenigen, die noch Laien in der Zechprellerei sind, einige Meter Leidfaden liefern.

Man erkläre an einem Tisch das Portemonnaie, das man, wie man gewiß wisse, zu sich gesteckt hat, für verloren und setze hinzu, den Verlust des Geldes verschmerzen zu können, jedoch sei das Portemonnaie ein liebes Angedenken an einen teuren Freund. Freunde sind immer teuer. Aber als ebenso fatal bedaure man, dem Kellner sagen zu müssen, daß das[95] Portemonnaie seinen Herrn verloren habe. Nun wird man an dem Tisch des Bekannten durch eine Einladung förmlich zur Zechprellerei gezwungen und prellt dann auch nach einigem Sträuben.

Hat man das Portemonnaie schon zu häufig als verloren benützt, so wartet man in der Plauderei am Tisch auf die passende Gelegenheit, die sich ja immer bietet, als Wettender wie ein Donnerwetter auf den Freund niederzufahren. Preis der Wette: das Abendessen. Eingeschlagen! Natürlich gewinnt man und zechprellt.

In Restaurants, wo dies angängig, schlägt man vor, um das Abendessen zu würfeln. Natürlich mit Vorsicht, denn der Freund mogelt vielleicht selber. Verliert man, so merkt man, wenn der Zahlkellner er scheint, daß man kein Geld bei sich habe. Man durchsucht alle Taschen, auch solche, die man nicht an der Innenseite der Weste hat, und thut sehr verzweifelt. Alsdann bezahlt der Gewinner die Zechprellerei, was man sofort vergißt.

Ein guter Zechprellertric ist auch der folgende. Hat sich zu Ehren irgend eines Ereignisses eine Gesellschaft zusammengefunden, deren Mitglieder sich aus eigener Tasche beköstigen, so schließt man sich ihr an und erscheint pünktlich. Hat man eine gute Nase, so merkt man, daß der Kümmelkäse näher kommt, und läßt sich sofort einfallen, daß man zu telegraphieren habe. Man stürzt fort, indem man verspricht, nach zehn Minuten wieder zurück zu sein, und die Zechprellerei ist ein vollendetes Werk. Den Kümmelkäse holt man zu Hause nach.

Ist man Mitglied eines runden Tisches, so schone man die Eigentümlichkeiten jedes einzelnen Teilnehmers. Nur so macht man manchen unschädlich. In jedem gebildeten Kreise ist einer, der immer Recht hat. Man bedaure diesen, weil es doch sehr schwer sein[96] muß, so viel Recht mit sich herumschleppen zu müssen, und gebe ihm immer Recht, besonders wenn er Unrecht hat. Endlich merkt er es, sucht sich einen anderen Tisch, an den sein Ruf noch nicht gedrungen ist, und wird auf diese Weise einer der gefürchtetsten Rundreisegäste.

Den unheilbaren Witzbold der Gesellschaft muß man austoben lassen. Tobt er sich anstatt aus immer mehr ein, so greife man zum äußersten, indem man sich eine Reihe seiner Witze merkt und sie ihm eines Abends vorreißt. Sieht er auch dann das Arge seines Gebarens nicht ein, so teile man ihm mit, man habe den Arzt wegen eines Leidens konsultiert und dieser habe Lachen verordnet. Dann suche man einen anderen Stammtisch und lasse an diesem ein Plakat anbringen: Dieser Tisch darf nicht verunwitzelt werden!

Ein grober Wirt muß höflich behandelt werden, damit er nicht gröber wird.

Ist der Grog zu stark von Wasser, so gieße man noch etwas Wasser zu und gebe ihn dem Kellner als Trinkgeld. Dadurch verbessert man den künftigen Grog wesentlich.

Man hüte sich vor alten Austern, auch wenn ihr Bart nicht grau ist.

Dann und wann kaue man ein Stückchen Kork, damit man weiß, wie der Wein nicht schmecken darf. Schmeckt er nach diesem nützlichen Gewebe, so sage man dies dem Wirt, damit eine neue Flasche Wein gebracht werde, nicht erst nach dem letzten Glas, weil dies dann gewöhnlich nicht geschieht.

Auch der vollkommenste Menschenfreund bedauere den Kellner nicht, wenn er sich verrechnet hat, denn dies geschieht nie zu dessen Nachteil.

Man habe immer den Hausschlüssel bei sich, besonders dann, wenn man Grund hat, ihn zu Hause vergessen zu haben.[97]

Wird dem Stammtisch ein gewohnheitsmäßiger Brüderschafttrinker zugeweht, so gebe man sich keine Mühe, mit heilem Sie davonzukommen, sondern hoffe nur das Beste von seinem schlechten Gedächtnis, mit dem ihm sicher das viele Dutrinken reich begabt hat. Als praktisch hat sich indes zuweilen das folgende Mittel bewährt. Merkt man, daß bei dem Duzbold das Versetzen in die zweite Person Singular ausbricht, so schenke man, wenn er nicht hinsieht, ein und trinke rasch aus. Volle oder halbvolle Gläser krümmen sein Armbein. Nützt alles nichts, so suche man wenigstens um seinen Kuß zu kommen. Diesen glücklichen Verlust erleidet man am einfachsten dadurch, daß man die Cigarre nicht aus dem Munde nimmt.

Man kaufe im Wirtshaus keine Cigarre zu zehn Pfennig, besonders wenn sich an dem Tisch ein Pfälzer befindet, der durch den Duft von Heimweh ergriffen wird. Das Heimweh kann einen Menschen zur Verzweiflung bringen, oder ihn doch sehr melancholisch stimmen.

Wünscht man sich schon lange ein Porträt, das absolut nicht zu erkennen ist, so versäume man nicht, sich von einem im Wirtshaus hausierenden Silhouetteur schneiden zu lassen.

Von einer Kolporteurin der Heilsarmee kaufe man ein Exemplar ihres Blatts. Es ist doch zu angenehm, eine Zeitung zu haben, die man nicht zu lesen braucht.

Wenn man kein guter Ehemann ist und möchte als ein guter gelten, so sage man mit ermüdender Regelmäßigkeit seinen Freunden, man müsse früh nach Hause, da die Gattin nicht daran gewöhnt sei, allein zu sein. Dann wird man von allen Seiten ersucht, einmal eine Ausnahme zu machen, ist sofort gern gefällig und geht später als die Andern nach Hause.

Wird um das Getränk gewürfelt, so gewinne[98] man, wenn man nicht gern ausgelacht zu werden pflegt. Gewinnt man immer und hat das eine Weile gedauert, so klage man über fortwährendes Pech und schließe sich vom Knobeln aus. Denn die Serie von pechösen Abenden kommt ganz gewiß nach.

Sitzt man an einem Tisch und speist, während ein anderer Gast raucht, so frage man ihn, ob ihn das Essen nicht beim Rauchen störe. Er wird dies ganz gewiß verneinen, denn er gehört ohne Zweifel den gebildeten Ständen an.

Bietet sich im Café ein Herr in der liebenswürdigsten Weise zum Führer durch Berlin an, so lehne man verbindlich dankend ab, indem man sich damit entschuldigt, daß man, wenn es dunkel wird, selber Freunde verschleppe.

Was die


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 93-99.
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