Sommerwohnung

Sommerwohnung

[14] in der Nähe der Stadt zu besitzen, soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Denn am Abend können Gäste aus der Stadt kommen. Aus einem ähnlichen Grund soll ein solcher Mann auch den Morgen nicht vor dem Mittag und den Mittag nicht vor dem Nachmittag, wie die Nacht nicht vor dem Morgen loben.

Wenn man merken will, daß man viele Freunde und Bekannte hat, so habe man eine Sommerwohnung und man wird sofort und täglich merken, daß man mehr Freunde und Bekannte hat, als man, so lange man in der Stadt wohnte, zu haben glaubte.

Will man eine Probe auf dies Exempel machen, so ziehe man in die Stadt zurück. Hier wird man wochenlang wenige Freunde und Bekannte haben, wohl auch ganz allein sein müssen.

Man sorge für gutes Wetter, wenn man eine Landwohnung hat, denn man nimmt dem Landwohner schlechtes Wetter sehr übel, welches allerdings das Wiederkommen der Besucher nicht verhindert.

Liebt man es, Freunde auch nachts im Hause zu haben, so sorge man für Fremdenzimmer. Andernfalls erinnere man beim Abendessen von zehn zu zehn Minuten daran, daß der vorletzte Omnibus, das vorletzte Dampfboot oder der vorletzte Eisenbahnzug präzise (folgt Angabe der Zeit) nach der Stadt abgehe. In der Zeit irre man sich um zehn Minuten zu seinen Gunsten.

Sind die Früchte im Garten reif, so behaupte man das Gegenteil und erzähle eine Schaudergeschichte von einem Cholerafall infolge des Genusses unreifer Früchte.

Sehnt man sich nach zertretenen Rasenplätzen und ruinierten Blumenbeeten, so bitte man die eingeladenen[14] Paare, ihre Kinder mitzubringen. Sie bringen sie mit.

Man strenge sich an, die Gäste so zufrieden zu stellen, daß sie die Stadt vergessen und sagen müssen, daß sie in einem guten Restaurant nicht besser bedient würden. Denn sie werden sich jedenfalls über mangelhafte Verpflegung beklagen und nur wiederkommen, um zu sehen, ob sie vielleicht besser geworden ist.

Man schärfe dem Dienstmädchen ein, solchen Gästen, welche schon beim Fortgehen auf die Verpflegung schelten, kein Trinkgeld zu geben, um sie milder zu stimmen. Sie würden es wahrscheinlich nicht nehmen, aber wenn sie es nehmen, so würde es nichts nützen. Der Nörgeler ist unverbesserlich, namentlich in Sommerwohnungen, in denen er Besuche abstattet.

Man nenne die Sommerwohnung, in deren Garten man sich während der Visite einen Schnupfen geholt zu haben glaubt, nicht gleich Mördergrube. Der Freund, der sie besitzt oder gemietet hat, brachte dir doch den Schnupfen nicht künstlich bei, und der Schnupfen verschwindet schneller, als die Bezeichnung Mördergrube, wenn du sie in Freundeskreisen verbreitet hast.

Natürlich spielt die sogenannte


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 14-15.
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