Einer der wenigst beachteten Vorzüge eines Buches ist seine Lückenhaftigkeit. Die Kritik allerdings anerkennt diesen Vorzug nicht als solchen in dem Fall, daß sie die Lückenhaftigkeit überhaupt bemerken sollte. Bei meinem Buch, das mir natürlich wichtiger ist als alle Bücher aller Bibliotheken, hat die Kritik z.B. eine Lücke bemerkt. Daß sie aber eines ihrer Argusaugen aus Rücksicht auf meine Leichterregbarkeit, mein Alter und andere Übel zugedrückt und absichtlich an den Lücken vorbeigesehen habe, das glaube ich nicht. Es ist dem Kritiker nichts angenehmer als die Entdeckung einer Lücke. Solche in einem Buch bemerken und mit strafender Feder verdammen, in der Überzeugung, dem Leser dadurch einen großen Respekt einzuflößen und einen vielleicht noch besserungsfähigen Autor zur Um- und Einkehr zu veranlassen, ist das Werk eines Augenblicks. Aber ich bin leider bescheiden genug, anzunehmen, daß der Kritiker keine Lücke in meinem Buch bemerkt hat, weil ihm einfach die Zeit fehlt, alle Bücher, welche ihm als sogenannte Rezensionsexemplare zugehen und die er kritisieren soll, obenein auch noch zu lesen. Der Kritiker ist ein gebildeter Mann, der sehr wohl weiß, daß das Lesen nur in höchst seltenen Fällen eine nützliche Beschäftigung ist. Meist verdummt oder langweilt es, häufig tut es beides zugleich, und wenn ich Kritiker wäre, – es haben mir zu einem solchen immer die Opferfreudigkeit, die Entsagung und die Lust gefehlt, mich mit allen Autoren der Welt durch Tadel oder durch zu wenig Loben zu überwerfen, – so würde ich mich streng an den Waschzettel halten,[1] den der deutsche Verleger den neuen Büchern beizulegen pflegt, welche er den Kritikern zuschickt.

In diesen dem Kritiker den Verkehr mit den neuen Büchern bedeutend erleichternden Soufflier-Rezensionen ist natürlich die betreffende neue literarische Erscheinung als absolut lückenlos dargestellt. Das ist selbstverständlich. Gewöhnlich ist der Autor des neuen Buches auch der der beigefügten Kritik, und es wäre daher ein unbilliges Verlangen, er solle, und hätte das Buch so viele Lücken wie der Schweizerkäse, auf diese Lücken seines Buches aufmerksam machen. Er empfiehlt sein Buch als lesenswert, als einzig in seiner Art, als vom Anfang bis zum Schluß fesselnd, als belehrend, als eines jener Werke, welche auf dem Tisch keines Litteraturfreundes fehlen sollten, – Himmel, wie groß müßte dieser Tisch sein! – und wartet dann ungeduldig auf die Wirkung, bis ihm der Verleger bei Gelegenheit verdrießlich mitteilt, daß diese Wirkung leider gleich Null sei. Der Verleger sagt die Wahrheit, die in diesem Fall eine seiner Spezialitäten ist. Für den Ausdruck dieser Wahrheit hat er ein beliebtes Metall in der Kehle, er sagt: Die Bücher liegen wie Blei.

Ich muß es dem modernen Knigge zum Lobe nachsagen, daß schon die ersten zwei Bände nicht das so häufige Bedürfnis der Bücher hatten, so zu liegen. Alsbald fanden der Verleger und ich, daß diese Bände eine Lücke aufzuweisen haben, und wir machten, jeder in seiner Art, den dritten Band. Dieser machte es wie der Handwerksbursch im Spaziergang in Goethes »Faust«, er ging mit den andern, und kaum hatte er in nennenswerter Anzahl das Lager in der Zimmerstraße Nr. 8 verlassen, so entdeckten wir auch in diesem Band eine höchst beklagenswerte und tunlichst auszufüllende Lücke.

Diese Lücke – dies stellten wir alsbald fest, – war zu unserer erheuchelten Überraschung dadurch entstanden,[2] daß merkwürdiger Weise der moderne Knigge die Leserinnen und Leser nicht auch in dem Umgang mit einzelnen, namentlich außergewöhnlichen Persönlichkeiten ein nach Kräften kundiger Führer war. Der moderne Knigge hatte, indem er als Führer durch Gesellschaftsmassen aller Art seines Amtes waltete, – dieser Ausdruck wird allerdings sonst meist nur für die Tätigkeit des Scharfrichters bei der Hinrichtung angewendet, – eigentlich einen beträchtlichen Teil seines Berufs verfehlt. Wir fanden, daß man ihn vergeblich suchen mußte, wenn man in die Lage kam, mit Vertretern aparter Stände, mit hervorragenden Individualitäten, mit Persönlichkeiten der politischen und diplomatischen Welt, mit Fürstinnen und Fürsten, mit Abgeordneten und Sprachlehrern, mit Künstlern, Schriftstellern und Gelehrten, mit Don Juans und Hochstaplern, mit Generalkonsuln und Weinreisenden, mit Masseusen, Heiratsschwindlern und anderen Kurpfuschern zu verkehren. Diese fielen uns nur im ersten Augenblick ein, als wir die Lücke klaffen sahen. Die Liste war nicht im entferntesten komplet. Aber sie machte einen vierten Band des modernen Knigge zu dem, was wir bis zum Überdruß bei ganz unpassenden Gelegenheiten zitiert finden: zu einem längst gefühlten Bedürfnis, dem abzuhelfen ist.

Ereignisse teils sensationeller, teils peinlicher Art, welche in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts stattfanden, mußten den modernen Knigge veranlassen, mit seinen wenn auch schwachen Kräften mit besagter Abhilfe zu beginnen. Um den Vorwurf der Aufdringlichkeit zu entkräften, braucht der moderne Knigge seinen Lesern nur den Roman der Kronprinzessin Luise in Erinnerung zu rufen, welcher etwa neun Monate lang die Öffentlichkeit beschäftigt hat. Natürlich mit Ausschluß der Leserinnen und Leser dieses Buches, welche sehr richtig meinten, daß ein Herzensroman,[3] sei es selbst der einer Prinzessin und künftigen Königin, nur sie, ihren Geliebten und etwa auch ihren Gatten etwas anginge, und daß sich am wenigsten die banale Neugierde um ein so zartes Verhältnis zu bekümmern habe, dessen Details durch eine bedauerliche Indiskretion bekannt geworden seien. Wenn eine Prinzessin ihr Herz soweit hinabverschenkt, daß der Lehrer ihrer Kinder nur zuzugreifen braucht, so ist das ihre Sache, und die Zeitgenossen haben an das schöne Wort Geibels zu denken: »Wo still ein Herz von Liebe glüht, o rühret, rühret nicht daran«, und wenn trotzdem alle Welt daran rührte, so schließt sich der moderne Knigge von der Allerweltsrührung aus. Seine Aufgabe ist nur die, unkundige Bürgerliche, welche


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Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1903, Bd. IV, S. 1-4.
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