Die wohltätige Frau,

[41] welche, wenn die Bedürftigkeit, um Hilfe bittend, an sie herantritt, Herz und Portemonnaie öffnet und Not und Sorge aus dem Hause der Armut verbannt. Wenn sie aber immer nur die Herzen und Portemonnaies Anderer öffnet, so ist ihre Erscheinung weniger verehrungswürdig, edel und erfreulich, sondern die eines Sports wie jedes anderen, die einer Passion wie jeder anderen. Diese Frau kennt fortwährend irgend eine Not, die andere lindern sollen, sie ist immer von ganzem Herzen ihrer Mitmenschen wohltätig. Auch noch eine zweite üble Gewohnheit hat sie: sie kommt fortwährend.

Wenn man ihren Besuch empfängt, so glaube man nicht, daß sie das Rennen aufgibt, wenn man ihr sagt: »Schade, daß Sie nicht gestern gekommen sind!« Diese Phrase, welche die Hartherzigkeit immer wiederholt, schreckt selbst Neulinge im Schnorren nicht mehr, um wie viel weniger die Wohltätige, welche die Schnorrerei vom Blatt spielt, eine Virtuosin ersten Ranges! Man erreicht nichts weiter, als ihre Schilderung irgend einer Not und zuhörend hört man zugleich, wie sich irgend eine Krone oder mehrere Kronen in der Tasche losmachen, um den Gang in die Hand der Wohltäterin anzutreten.

Will man ihr etwas sagen, was sie für unmöglich hält, weil sie alle Not in der Stadt zu kennen meint, so sage man ihr, daß man für eigene Verwandte übermäßig in Anspruch genommen sei. Sie schwört, daß man nicht wieder von ihr in Anspruch genommen werde, nimmt dann eine Gabe an und kommt morgen wieder.[41]

Will man aber auf das Vergnügen, sie nächstens wiederzusehen, opferfreudig verzichten, so empfange man sie einmal, indem man ihr freudig entgegeneilt, ungemein herzlich mit den Worten: »Oh das ist ja herrlich, ich erwarte Sie längst mit Ungeduld. Nehmen Sie Platz und hören Sie mich an.« Sie setzt sich und will das Wort nehmen, um ihre Wohltätigkeitsangelegenheit vorzutragen. Aber mau unterbreche sie mit den Worten: »Lassen Sie mich heute zuerst ein Elend schildern. Ich kenne Ihre edlen Samaritertugenden, Ihren unerschütterlichen Wohltätigkeitssinn, Ihr Bestreben, die Not Ihrer Mitmenschen zu lindern, und ich gebe Ihnen heute Gelegenheit, wie Sie mir solche so oft gegeben, einer armen, vor dem Untergang stehenden Familie zu helfen. Eine Frau ist mit Zwillingen beschenkt, denen alles fehlt, was der Mensch zum Leben braucht. Der Gatte und Vater ist von einem Automobil überfahren, liegt im Krankenhaus schwer darnieder und kann, da er nicht zu arbeiten vermag, nicht helfen. Seine sechs unmündigen Kinder schreien nach Brot, daß es die Nachbarn hören. Der Gerichtsvollzieher kann jeden Moment seine Aufwartung und die Familie obdachlos machen. Hier ist rasch zu helfen. Hier können Sie beweisen, daß Sie auch die Bedürftigen Anderer in Ihr Herz schließen. Ich habe schon nach Kräften geholfen, nun wende ich mich auch an Sie.« Man öffnet die Hand und hält sie ihr entgegen. Sofort wird sie diese Hand ergreifen, um Abschied zu nehmen und nicht wieder zu erscheinen. Man wende dieses Hausmittel einmal an. Wenn es nicht nützt, so schadet es auch nicht.

Ebensowenig einfach ist der Umgang mit den Damen, welche sich der modernen Frauenbewegung angeschlossen haben, Selbständigkeit anstreben und die Männer zwingen, sie als gleichberechtigt anzuerkennen.[42] Will man sich mit einer Sisyphusarbeit die Zeit vertreiben, so versuche man,


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1903, Bd. IV, S. 41-43.
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