1. Begriff, Grundlage und Quelle des Anstandes und der Höflichkeit.

[7] Der Wert und die Würde des Menschen liegt in der wahren Herzensbildung. Die Bildung unseres Inneren findet aber stets ihren Ausdruck in jener Wohlanständigkeit, womit wir uns Gott unseren Mitmenschen und uns selbst gegenüber benehmen. So gewiß jeder Mensch nach innerer Vollkommenheit streben muß, so gewiß darf er auch die Regeln des äußeren Anstandes und überhaupt der äußeren Bildung nicht außer acht lassen. Es gibt aber zweierlei Arten von Höflichkeit und Anstand. Die eine Art äußert sich in leeren Komplimenten und nichtssagendem Phrasengeklingel, sie ist nichts als eine gewisse äußere Glätte, ein Zurschautragen äußerer Anstandsformen ohne inneren Kern und Gehalt; es fehlt ihr die richtige Grundlage, die richtige Quelle, und so läßt sie sowohl den kalt, der sie ausübt, als den, dem sie gilt. Die andere Art des Anstandes und der Höflichkeit kommt aus dem Herzen, und – weil[7] aus dem Herzen kommend – erquickt und erfreut sie uns und andere und macht uns angenehm bei Gott und den Menschen. Diese Art des wohlanständigen Benehmens, der christliche Anstand und die christliche Höflichkeit, ist die praktische Bethätigung der Lehre des Apostels: »Alles, was ihr wollt, daß euch die Menschen thun, das thuet auch ihr ihnen« (Matth. 7, 12). Diese wahre und eigentliche Höflichkeit und Wohlerzogenheit, das ist das sittsame, kluge und schickliche Betragen gegen jedermann, ist die stete Ausübung der zwei Hauptgebote, die uns der göttliche Heiland gegeben hat: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele, aus deinem ganzen Gemüte und aus allen deinen Kräften. Das ist das erste Gebot. Das zweite ist diesem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Diese christliche Wohlerzogenheit steht daher in engster Verbindung mit der Religion, sie macht sozusagen einen Teil derselben aus. Die Grundsätze der Religion geben dem Menschen die innere Bildung; er soll demütig, gläubig, menschenfreundlich, kurz sittlich gut werden. Die Wohlerzogenheit gibt oder vollendet noch des Menschen äußere Bildung, ohne die der Christ so wenig sein soll, als man einen kostbaren Edelstein ohne Fassung läßt. Sie lehrt uns, wie wir uns im Umgang mit Gott und unseren Mitmenschen in Reden, Handlungen und Geberden benehmen sollen. Sie ist der Spiegel eines reinen, geordneten, tugendhaften Inneren, sie ist Tugend, denn sie erfordert Selbstverleugnung, Abtötung[8] und Opfer, und diese Opfer kann nur der Tugendhafte bringen und zwar um Gottes Lohn, aus Liebe zu Gott. Er schränkt sich anderen zuliebe gerne ein, er bequemt sich ihnen an, er ist nachgiebig, wo er es sein darf, ist zurückhaltend bei aller Freiheit und frei, ohne jemand zu verletzen; er lobt, was Lob verdient, und weiß den Tadel, wo Pflicht und Klugheit erheischen, ihn auszusprechen, durch Teilnahme und Freundlichkeit zu mildern; er ist heiter ohne Ausgelassenheit, zuvorkommend und dienstfertig ohne Kriecherei; unter Aelteren bescheiden, bei Gleichgestellten wohlwollend, gegen Untergebene herablassend und leutselig, ohne sich etwas zu vergeben. Das ist die wahre, die christliche, aus der Religion entspringende Höflichkeit, und daher kommt es auch, daß tief religiöse und sittlich unverdorbene Leute in der Regel höflich und anständig sind, eben weil bei ihnen die Grundtugenden der Bescheidenheit, Demut, Nächstenliebe, Selbstbeherrschung und Opferwilligkeit gefunden werden, und daher findet man gar oft in ganz einfachen, religiösen Familien mehr Anstand und Höflichkeit, als in der sogenannten guten Gesellschaft. Echte Religiosität und wahre Tugend sind immer von der Höflichkeit und dem Anstande begleitet. Nach diesem wahren, echten, christlichen Anstand, nach dieser wahren, echten, christlichen Höflichkeit, deren Lehrbuch das Evangelium und deren tüchtigste Schule unsere heilige katholische Kirche ist, soll der katholische Christ streben, sie soll er sich aneignen, und die äußeren Formen, in denen sie sich kundgibt, sollen nur der[9] Abglanz eines tiefreligiösen, sittlich reinen, tugendhaften Gemütes sein, und diese Höflichkeit und dieser Anstand wird, wie schon oben gesagt, uns Gott wohlgefällig und bei den Menschen angenehm und wohlgelitten machen, wird uns unserem zeitlichen und ewigen Glücke entgegenführen.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 7-10.
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