B. Von den Höflichkeitsformen in der Anrede und beim Gespräch.

[73] 1. Die Anrede »Du« darf man bloß gegenüber guten Freunden und Bekannten anwenden. Jede unbekannte, jede höhere und jede ältere Person, jeder Vorgesetzte dagegen muß mit »Sie« angeredet werden. Ob den Eltern gegenüber »Sie« oder »Du« anzuwenden ist, darüber läßt sich eine bestimmte Regel nicht aufstellen; ein jeder wird sich hier eben nach dem Gebrauche und der Sitte seines Heimatsortes richten und richten müssen.

2. Redet man eine Person an oder grüßt man sie, so hat man ihr immer den ihr zukommenden Titel (oder Namen) mit dem vorgestellten Prädikat »Herr« bezw. »Frau, Fräulein« zu geben.

3. Hat eine höhere Persönlichkeit mehrere Titel, so gibt man ihr immer den höheren. Ist ein Pfarrer z.B. zugleich Schulinspektor, so wird man ihn »Herr Schulinspektor«, ist ein Bezirksamtmann zugleich Baron, so wird man ihn »Herr Baron« titulieren müssen.

4. Man gebe wohl acht, daß man Namen und Titel nicht verwechselt; zu diesem Behuf erkundige man sich, wenn es möglich ist, zuvor[73] genau nach Namen, Rang und Stand des Betreffenden, mit dem man zusammenkommen will, oder merke bei einer etwaigen Vorstellung genau auf.

5. Der Titel muß im Verlauf des Gesprächs öfter wiederholt werden.

6. Höheren Personen gegenüber wendet man auch die dritte Person der Mehrzahl an, z.B. Exzellenz haben befohlen.

7. Eine häßliche, sehr verbreitete Unsitte ist es, von einer dritten Person, statt sie mit ihrem Titel zu nennen, per »Er« zu sprechen, z.B. statt zu sagen: »Der Herr Rektor hat das angeordnet«, bloß zu sagen »Er hat das angeordnet«. Ebenso ist es sehr unhöflich zu sagen: »Ist der Rektor zu Hause?« statt: »Ist der Herr Rektor zu Hause?«

8. Dem Abwesenden hat man demnach, wenn man von ihm spricht, immer das Wort »Herr« vor seinem Titel zu geben. Dies kann selbst dann notwendig werden, wenn man von einem Familiengliede (z.B. von einem Bruder) oder nahen Verwandten oder Bekannten spricht, wenn nämlich derselbe eine hohe Stellung oder mindestens eine höhere bekleidet, als derjenige, mit welchem man von ihm spricht; Dienstboten gegenüber muß dies unter allen Umständen geschehen.

9. Eröffnet man eine Anrede oder ein Gespräch mit einem Höheren oder einem vornehmen Unbekannten, so bediene man sich der Formeln: »Ich bin so frei – ich nehme mir die Freiheit – wenn Sie gütigst erlauben – Sie waren so gütig (so freundlich), mir mitzuteilen.« In den[74] weitaus meisten Fällen wird aber der Höhere das Gespräch beginnen. Dem Unbekannten gegenüber frage man zuerst: »Mit wem habe ich die Ehre?«

10. Wird man gefragt, wer man sei, oder »wen habe ich zu verehren«, so nenne man seinen Namen und Stand, ohne den Titel »Herr« vorzusetzen.

11. Ist man genötigt, jemand zu widersprechen, so sagt man nicht: »Das ist nicht wahr« oder, »Sie haben Unrecht«, sondern etwa »Erlauben Sie mir zu bemerken, daß Sie sich täuschen«, »Sie dürften vielleicht nicht gut unterrichtet sein« usw.

12. Hat man etwas, was ein anderer spricht, nicht recht verstanden, so frage man nicht: »Wie meinen Sie?« oder »was haben Sie gesagt?« oder kurzweg und höchst unhöflich »was?«, sondern »wie beliebt?« oder man sagt: »Erlauben Sie gütigst (gefälligst), ich habe das letzte nicht recht verstanden.«

13. Man antworte nie bloß mit »ja« oder »nein«, sondern setze immer den Titel des Betreffenden bei: »Ja, mein Herr! ja, Herr Lehrer, nein, Herr Pfarrer.«

14. Redet man von sich und anderen, so nenne man immer die anderen zuvor und dann erst sich selbst, z.B. meine Mutter und ich; der Herr Pfarrer und ich.

15. Wird Dir von anderen Lob oder Dank gespendet, so verneige Dich stillschweigend oder füge etwa bei: »Sehr liebenswürdig von Ihnen – Es war gar nicht der Mühe wert – Sie[75] beschämen mich – ich habe nur meine Pflicht gethan.«

16. Willst Du einer Person etwas anbieten, so sage »Erlauben Sie, daß ich Ihnen das anbiete? Darf ich Ihnen das anbieten?«

17. Hat man Dir etwas angeboten, so danke hierfür verbindlichst und höflich mit den Worten: »Ich danke verbindlichst – bestens – schönstens, ich danke sehr. Sie sind sehr freundlich, Sie sind zu gütig – ich bin so frei.«

18. Wünschest Du für Dich etwas, so sage nicht einfach »Geben Sie mir das und das«, sondern: »Bitte, wollen Sie mir nicht usw. Wollen Sie mir nicht gefälligst usw. Wollen Sie nicht die Güte haben – Seien Sie so freundlich.«

19. Bittet man Dich selbst um etwas, so bediene Dich der Ausdrücke »Sehr gerne« oder »Mit dem größten Vergnügen«. Kannst Du der Bitte oder dem Wunsche nicht entsprechen, so sage: »Es thut mir leid, Ihnen nicht dienen zu können,« oder »Ihren Wunsch (Ihre Bitte) nicht erfüllen zu können.«

20. Eine angebotene, Dir aber entbehrliche Hilfeleistung kannst Du ablehnen mit den Worten: »O bitte, bemühen Sie sich nicht!«

21. Mußt Du einem anderen eine Mühe oder eine Unbequemlichkeit bereiten, so sage: »Es thut mir leid, daß ich Sie belästigen muß.«

22. Entschuldigt sich jemand vor Dir, z.B. daß er Dich gestoßen oder getreten habe usw., so erwidere einfach: »Ich bitte, es hat gar nichts zu sagen.« Hast Du selbst einen anderen gestoßen[76] oder getreten, so sage: »Ich bitte sehr um Entschuldigung.«

23. In allem drücke Dich möglichst artig und bescheiden aus, nie aber kriechend oder mit hochtrabenden Worten, eingelernten Redensarten, faden Komplimenten. Der wahrhaft Gebildete wird all das nicht verlangen, nur der Ungebildete und der Halbgebildete geben etwas auf ceremoniöse Redensarten.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 73-77.
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