4. Ein Wort über Visitenkarten.

[120] In unserer modernen Zeit hat alles Visitenkarten: das kleine, kaum flügge gewordene Studentlein wie der allmächtige Minister, das noch in den Kinderschuhen steckende Pensionsfräulein wie die gereifte vornehme Dame; ja, selbst Dienstboten präsentieren uns vielfach ihre Karten. Wird den Karten deshalb wohl eine übertriebene Wichtigkeit beigelegt und ihnen in unserem modernen Besuchs- und Gesellschaftsleben vielfach eine zu große Rolle zugewiesen, so ist doch auch nicht zu verkennen, daß sie einen wirklichen Wert und Nutzen haben, indem sie an die Stelle eines Besuches treten und so der Wohlanständigkeit genügen und uns zugleich Zeit ersparen. Die Visitenkarten dürfen deshalb in einem Anstandsbüchlein nicht übergangen werden, und wir bemerken über den Gebrauch derselben folgendes:

1. Die Karten seien nach der heutigen Mode aus weißem, nicht farbigem, aber festem Papier und von edler Einfachheit. Visitenkarten bei Trauer haben schwarzen Rand. Sie haben den Namen sowie die Adresse (namentlich in größeren Städten) des Inhabers zu tragen. Gewöhnlich wird auch der Stand beziehungsweise Titel des Inhabers beigefügt, was aber in bürgerlichen Ständen (Handels- und Gewerbestand) besser wegbleibt, da sonst die Besuchskarte mehr einer Geschäftsanzeige gleicht. Visitenkarten von verheirateten Frauen tragen am besten den Familiennamen mit dem Geburtsnamen derselben. Den Titel des[120] Mannes vorzusetzen, wie manche Frauen zu thun pflegen, ist höchst überflüssig und zeugt von lächerlichem Stolze.

2. Macht ein Ehepaar gemeinsam Besuche, so hat es eine gemeinsame Karte zu führen. Der Aufdruck lautet am besten: Herr und Frau N.N., oder N.N. und Frau. Indessen ist es auch Sitte, daß, wenn ein Ehepaar ein anderes zum ersten Male besucht, der Besucher zwei Karten mit seinen Namen abgibt (eine für den Herrn, eine für die Dame), während die Besucherin nur eine (für die Dame) abliefert.

3. Junge Leute, wie Gymnasiasten, Lehrlinge, Dienstboten brauchen keine Visitenkarten; es ist dies einerseits eine unnötige Ausgabe, anderseits verstehen sie doch nicht, sie richtig zu gebrauchen

4. Richtig gebraucht dient die Visitenkarte zu folgenden Zwecken:

a) Bei den Besuchen, um sich durch den Diener anmelden zu lassen oder um sie abzugeben, wenn die Person, die man besuchen möchte, nicht zu Hause ist oder unseren Besuch nicht annimmt. Im letzteren Falle biegt man den äußeren Rand der Karte etwas ein und zwar, wenn der Besuch nur dem Zwecke galt, überhaupt einen Besuch abzustatten, den linken nach der Vorderseite; galt er einer Beileidsbezeigung, den rechten Rand nach der Rückseite, zum Zeichen, daß man die Karte persönlich abgegeben und die Absicht gehabt hat, einen förmlichen Besuch abzustatten.[121]

b) Um Verwandten und guten Bekannten am Namenstag, Geburtstag, zur Verlobung usw. zu gratulieren.

c) Um uns besonders am Neujahrstag auf eine bequeme und leichte Art von einem an diesem Tage oft schwer zu ermöglichenden Besuche zu befreien.

d) Um uns vom Schreiben eines Briefes zu entbinden, sei es als Erwiderung eines Geschenkes, einer freudigen oder traurigen Anzeige, der Abreise, Ankunft usw.

5. Man kann auch einige, den Zweck der Karte erklärende Worte auf dieselbe schreiben, wie z.B. am Neujahrstag »Herzlichen Glückwunsch«. Auch ist es Sitte, den Zweck einer Karte durch unten in der Ecke angebrachte Buchstaben zu bezeichnen, z.B. bei Beantwortung einer Todesanzeige bringt man an dem genannten Platze die Buchstaben f.K. (für Kondolenz) an, bei Erwiderung der Anzeige eines freudigen Ereignisses die Buchstaben f.G. (für Gratulation), bei Abschiedsbesuchen z.A. (zum Abschied) an, französisch im ersten Fall p.c. (pour condoléance), im zweiten p.f. (pour féliciter), im dritten p.p.c. (pour prendre congé).

6. Einem Höheren dürfen wir niemals eine Karte schicken, sondern müssen ihm, wenn es zum Beispiel ein Vorgesetzter, Seelsorger oder Lehrer von uns ist, dem wir ganz besonders verpflichtet sind, einen Brief schreiben, um ihm zu gratulieren oder zu kondolieren. Wollen wir einem Höheren unsere Aufwartung machen, ohne ihn sprechen zu[122] wollen, so haben wir die Karte persönlich abzugeben und sie unversehrt (d.h. nicht eingebogen) dem Diener zur Uebermittlung einzuhändigen.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 120-123.
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