VII. Die »goldene« Freiheit.

[41] Ich wandte mich damals zunächst nach Frankfurt an der Oder, um vorläufig einmal festen Boden zu fassen und mich in der Umgebung umzuschauen.

Mein persönliches Unbekanntsein erschwerte meinen sofortigen Eintritt in ein geregeltes Arbeitsverhältnis, und da auch unterdessen das Handwerk einen erheblichen Wandel erfahren hatte, so beschloß ich, mich gänzlich dem Maschinenbetriebe in der Schuhmacherei zu widmen. Ich tat die einleitenden Schritte, um in Erfurt Stellung zu bekommen, und die Zwischenzeit wollte ich darauf verwenden, noch einmal meine Heimat und das Grab meiner Mutter zu besuchen.

So trat ich denn von Frankfurt die weite Reise nach Tilsit an. Dieses Mal nicht per pedes apostolorum – sondern im bequemen Eisenbahnzuge.

Mit erklärlichem Interesse beobachtete ich die Veränderungen, die dreizehn Jahre in dem äußeren Ansehen meiner Heimat hervorgerufen hatten.

Zaghaft lenkte ich meine Schritte zum Elternhause. Es war ein Freitagnachmittag in der vierten Stunde, als ich die vertrauten Räume betrat.

Bescheiden an die Tür klopfend, das Reiseköfferchen in der Hand, trat ich auf das »Herein« in das Wohnzimmer.[42]

Mein Vater saß bequem ins Sofa gelehnt. Stumm stand ich ihm einen Augenblick gegenüber, als aus seinem Munde die Frage kam: »Wer sind Sie? Was wünschen Sie?« »Vater, kennst du denn dein Kind nicht mehr?« sagte ich. »Ach so,« antwortete er, »bist du jetzt herausgekommen?«


»Wie lange willst du nun hier bleiben?«


Wer genau den Inhalt dieses Gespräches überliest, wird wohl ebenso erstaunt sein, wie ich es war. Ich kehrte zermürbt, zerschlagen ins Vaterhaus zurück, und die erste Frage, die mein Vater an mich richtete, war: »wie lange wirst du bleiben?«

Mir war zumute, als bekäm' ich einen Schlag ins Gesicht. Still und schweigend setzte ich meinen Koffer in die Ecke.

Ich muß bemerken, daß mein Vater sich im Oktober des vorhergehenden Jahres aufs neue verheiratet hatte. Meine jetzige Stiefmutter, die mir vorher nur einen Brief geschrieben hatte, war mir gänzlich unbekannt. Da sie bei meiner Ankunft im Hause nicht anwesend war, wurde sie von einem Lehrling meines Vaters sofort vom Felde geholt und eine halbe Stunde darauf standen wir uns gegenüber.

Ich kann nicht sagen, daß sie mir einen unsympathischen Eindruck machte. Im Gegenteil, ich hätte volles Vertrauen zu ihr gewinnen können, wenn wir länger zusammen geblieben und näher miteinander bekannt geworden wären.

Da ich aber aus der Äußerung meines Vaters zu erkennen glaubte, daß ich ihm ein unbequemer und unliebsamer Gast sei, so hatte ich meinen Aufenthalt auf nur wenige Tage bemessen.[43]

Nachdem ich mich ein wenig gestärkt, machte ich zunächst Besuche bei den Verwandten und Bekannten. Ziemlich zuletzt ging ich zu einer jahrelangen Freundin meiner Mutter. Diese stand in dem intimsten Freundschaftsverhältnis zu der Verstorbenen und war auch seinerzeit beim Briefwechsel mit mir behilflich gewesen.

Nach einer kurzen Unterhaltung mit ihr faßte sie mich bei der Hand und erzählte mir unter hervorquellenden Tränen die Todesursache meiner Mutter.

Nach ihrem Berichte hatte mein Vater der häßlichen Spielleidenschaft, welche mit eine Ursache meiner unglücklichen Jugend war, auch weiterhin nachgegeben.

An dem Todestage meiner Mutter war er vormittags wieder mit einer erheblichen Geldsumme in der Tasche ausgegangen und hatte alles verspielt.

In der elften Stunde abends kehrte er zurück und wollte sich neuen Vorrat aus dem Bestande der Kasse holen. Meine Mutter, die wußte, daß in den ersten Tagen des neuen Monats ein Wechsel zu bezahlen war, wollte ihm das Geld nicht herausgeben. Sie stellte sich schützend vor die Kommode, in der es lag. Da hätte er sie durch körperliche Mißhandlung, Stöße und Schläge, dazu zwingen wollen. Sie wäre niedergeschlagen worden, hätte den Kopf auf eine harte Kante aufgestoßen und dabei den Tod gefunden.

Die Freundin meiner Mutter hatte das von einem Augenzeugen, einem Trompeter vom Dragonerregiment, der noch spät abends vorbeiging und durch das Fenster den ganzen Vorfall beobachtet hatte. Ich konnte mithin nicht an der Wahrheit des Gesagten zweifeln.[44]

Mit welchem Entsetzen ich diesem Bericht lauschte und welchen Eindruck derselbe auf mich machte, das läßt sich kaum schildern.

Die Frau bat mich, die Leiche meiner Mutter wieder ausgraben zu lassen und Strafantrag gegen meinen Vater zu stellen. Diesem Ansinnen konnte und durfte ich nicht nachkommen!

Wozu hätte das auch führen und was hätte es nutzen sollen!

Ich bin dann abends zum Friedhof gegangen, habe das Kreuz, das auf dem Grabe meiner Mutter steht, umfaßt und habe lange, ich weiß nicht wie lange, dagelegen. Dann pflückte ich noch ein paar Blätter von dem Rosenstrauch, der auf ihrem Grabe wächst – das einzige Gedenkzeichen, das mir von der Unvergeßlichen geblieben. Hernach kehrte ich in mein Vaterhaus zurück, mit der festen Absicht, es so schleunig wie möglich zu verlassen. Meines Bleibens konnte hier nicht sein. Meine Stiefmutter vermochte sich gar nicht zu erklären, was mich so plötzlich wieder von dannen trieb.

Zu einer Aussprache mochte ich es nicht kommen lassen, um so mehr, als mein Vater mir gegenüber, unberechtigter aber sehr verständlicher Weise, die Stiefmutter in den Himmel zu heben und meine tote Mutter herabzusetzen suchte. Das ekelte mich an.

Meine Abreise war eine beschlossene Sache.

Am folgenden Tage nachmittags verließ ich zum zweiten Male die Heimat. Dieses Mal um vieles ärmer als damals, wo ich zuerst in die Fremde hinauszog. Ich wußte jetzt, daß es


für mich keine Heimat mehr gab!


Quelle:
Voigt, Wilhelm: Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde: mein Lebensbild. Leipzig; Berlin 1909, S. 41-45.
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