Wenn der Wecker weckt

[63] Ein sonniges Gemüt ist ein goldiges Geschenk des Himmels. Wer es besitzt, hat vor allen Menschen, die es nicht haben, einen Riesenvorsprung. Überall, in der Familie, unter den Arbeitskameraden, im Kreise der Freunde und Bekannten ist er gern gesehen. Es gehn von ihm unsichtbare, wohltuende seelische Strömungen aus, die sich in die Herzen der andern schleichen. Darin liegt das Geheimnis.

Menschen mit einem sonnigen Gemüt fällt es meist nicht schwer, das Leben zu meistern, denn erstens wälzen sie sich nicht selbst Steine oder gar Felsblöcke in den Weg, wie es die Schwarzseher oder Miesmacher tun und zweitens: wenn sie ihnen das Schicksal mal ganz programmwidrig in den Weg wälzt, so finden sie viel schneller als jene die Kraft, sie weg zu räumen.

Es gibt aber eine Sorte von Menschen, auf die die wohltuenden Ströme des Fröhlichen nicht übergehen. Das sind die grundsätzlichen Pessimisten. Sie ärgern sich darüber, daß der andre ein sonniges Gemüt hat. Ärgern sich in dem Bewußtsein, daß es ihnen fehlt. Sagen, daß ihnen der immer gut gelaunte, lustige Mensch auf die Nerven falle. Dann ärgern sie sich wieder, daß sie sich ärgern –.


*


Rrrrrrr. – Verdammt nochmal. Will denn heute der Wecker überhaupt nicht aufhören? – Schwupp verschwindet er unter der warmen Steppdecke.[63]

Ganz im Vertrauen, am liebsten hätte Egon den Wecker wutschnaubend gegen die Tür oder gegen die Wand geworfen. Ja, so ärgerlich ist er in diesem Augenblick. Das ist nebenbei gesagt viel schlimmer noch als ungehörig, das ist dumm.

Es ist genau halb sieben. Nur noch fünf Minuten dösen – ah, das ist – so jetzt noch mal fünf Minuten, aber nicht länger, nun noch mal drei Minuten, noch – krchchch – krchchch – krchchchch –.

Schon greift vom Nachbarbett eine zarte Frauenhand herüber und faßt behutsam des Gatten Arm: »Egon, es ist Zeit, du mußt aufstehn!«

»Ja, ja, ich steh' ja schon auf,« klingt es reichlich unwirsch, gereizt und auch ein bißchen beleidigt mit Grabesstimme zurück. –

Nun steht der gute Egon in seinem hellblauen Schlafanzug gähnend vor seinem Bett auf der flauschigen Vorlage. Ein Bild für Götter! Nachlässig und mißmutig und doch vorsichtig holt er den Wecker unter der Steppdecke hervor. Da stellt er aber auch schon fest, daß es bereits sechs Uhr dreiundfünfzig ist. Wieder ein stillverhaltener Fluch. Egon wirkt in diesem Augenblick äußerst »sympathisch«. Lang hängen die blonden Haarsträhnen über die faltenreiche Stirn und die verschlafenen Augen. Elegisch murmelt er vor sich hin: »Der Tag kann ja wieder gut werden, der schon mit dem ekelhaften Aufstehen anfängt!«

Bad fällt heute aus – wegen Nebels. Nebenbei gesagt: zu dieser geistreichen Erkenntnis kommt er fast jeden Morgen, weil er eben meist zu lange schläft. Nun schlendert Egon, immer noch dösig, ins Badezimmer, um sich zu waschen und sich zu rasieren. Jetzt aber beschleunigt sich allmählich sein Tempo, als er nämlich anfängt, die ihm noch zur Verfügung stehenden Minuten zu zählen. Als die haarscharfe Klinge seines Rasierapparates die weißen Schaumwogen um seinen lieblichen Mund herum teilt, ist er schon hastig, nervös und gereizt.

»Elende Schinderei!« – flucht er, denn unter der linken Mundecke zeigt sich eine kleine rote Spur, die langsam ihren Weg abwärts nimmt. Wo ist der Blutstillstift? – So geht es weiter, ärgerlich und egal schimpfend.[64]

Beim Anziehen fällt dem höchst verstimmten Langschläfer ein, daß er heute eine wichtige Konferenz hat. Also muß er einen neuen Kragen anlegen. Die neuen Kragen haben ihre Mucken, besonders die verflixt steifen Knopflöcher. Das merkt Egon jetzt. Nach einiger Mühe ist es ihm gelungen, das Kragenloch im Nacken kühn zu durchbohren, aber vorn will es nicht klappen. Er drückt und schimpft und bohrt und flucht. In Ergänzung seiner unausgeglichenen Armbewegungen strampelt er mit den Beinen wie ein Hampelmann. Und dazu macht er ein Gesicht –! Nun haut er mit dem rechten Schienbein gegen die untere Kante des Bettes. Verflucht juchhe, tut das weh! Die Wut steigert sich naturgemäß, der linke Ellenbogen reißt die kostbare Karaffe samt Trinkglas vom Nachtschränkchen herunter. Er watet im Wasser, geht aber doch wenigstens den Scherben vorsichtig aus dem Wege. Endlich, endlich ist der Knopf durch. Heureka! Nun aber klärt ihn ein Blick in den Spiegel darüber auf, daß der neue Kragen völlig zerknüllt ist. –


Wenn der Wecker weckt

Entsetzt, erschöpft, resigniert und auch ein wenig reumütig greift er zu einem zweiten Kragen. Das neckische Spiel beginnt von neuem –.

Egons umsichtige und aufmerksame Gattin hat, wie jeden Morgen, mit Liebe den Frühstückstisch gedeckt, aber Egon steht nur das Zifferblatt seiner Armbanduhr, auf dem der Zeiger mitleidslos weiterkriecht. Aus der bereitstehenden Tasse nimmt er zwei Schlucke Tee, greift im nächsten Augenblick mit der Linken die bereitliegende Aktenmappe und mit der Rechten eine mit Kirschkonfitüre bestrichene Brötchenhälfte, um mit flüchtigem Gruß abzuhauen. –

Wir wollen es uns schenken, den guten Egon weiter zu begleiten, um etwa zu sehen, wie er an der Autobushaltestelle[65] ungeduldig von einem Bein auf das andre hupft und wie er schließlich nervös und übelster Laune sein Dienstzimmer erreicht. – Dagegen wollen wir einmal kurz Betrachtungen anstellen, wie sich alles abgewickelt hätte, wenn Egon nicht sechs Uhr dreiundfünfzig, sondern sechs Uhr dreißig, nein, wenn er bereits um sechs mit kühnem Schwung aus dem Bett gesprungen wäre.

Da hätte ihn zunächst ein erfrischendes und belebendes Brausebad schnell von den lähmenden, im Schädel noch unheilvoll spukenden und polternden Traumgeistern befreit. Anschließende Gymnastik im Verein mit Tiefaremübungen hätten ihm Sauerstoff und damit neue Schaffens- und Spannkraft verliehen. In wenigen Minuten wäre so aus dem Schläfer ein lebensbejahender, fröhlicher Mensch geworden. Beim Rasieren hätte er sich nicht geschnitten. Das Einbinden des Kragens hätte ihn nicht ein Bündel Nerven gekostet, denn er hätte in aller Ruhe die widerspenstigen Knopflöcher mit seiner Taschenschere bald gefügig gemacht. Auch einen Kragen hätte er gespart. Die Verletzung des Schienbeins wäre ihm erspart geblieben. Die prächtige Wasserkaraffe würde noch heute sein Auge erfreuen und auf das unfreiwillige Fußbad hätte er verzichten können. Außerdem aber hätte Egon genügend Zeit gehabt, mit seiner lieben Frau zusammen behaglich und genußreich zu frühstücken und schließlich hätte er nach erquickendem Spaziergang froh gelaunt und voller Schaffensfreude mit seiner Tagesarbeit beginnen können.

Ob nun aber unser Held zu solchen Überlegungen vernünftiger und logischer Lebensbilanz gekommen ist, wissen wir nicht, glauben es aber kaum, denn wahrscheinlich wird ihm auch dazu die Zeit gefehlt haben. –

Die Folgen des törichten und mürrischen Verhaltens unsres Freundes treten nun aber auch noch auf beruflichem Gebiet in Erscheinung. Und das ist vielleicht das Bedenklichste. Höchst unwirrsch hat er seine Arbeitskameraden begrüßt, die seine schlechte Laune sofort gewittert haben. Die Zusammenarbeit steht also heute von Anfang an unter einem Unstern. Man kann sich denken, was daraus wird. Er selbst wird von dem Arbeitskameraden in seinem Zimmer möglichst gemieden, was Egon zu der Annahme[66] verleitet, jener sei heute aber besonders schlechter Laune. –

Wie sagt doch Hermann Lingg?:


Jeder sieht nur seine Plage,

glaubt, daß er am schwersten trage

und ist sehr erstaunt,

hört er eines andern Klage,

der ist, heißt's dann, schlecht gelanut.


Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 63-67.
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