Von der Macht des Wortes

[81] Nur selten werden wir Menschen uns bewußt, ein wie herrliches Geschenk des Himmels unsre Sprache ist. In dieser Hinsicht hat der Mensch einen großen Vorsprung gegenüber allen andern Lebewesen der Erde. Als Kinder lernen wir nahezu mühelos das Sprechen und erst ganz allmählich empfinden wir, wie bedeutungsvoll die Sprache ist, die wir im allgemeinen als selbstverständlich hinzunehmen pflegen. Erst später wird es uns klar, daß die Sprache auch ein gefährliches Instrument sein kann. –

Ein Mann, der die überwältigenden, immer wechselnden Naturreize einer gigantischen Alpenwelt bewundert, ist glücklich, einem mitempfindenden Freund oder einer gleichgesinnten Frau seine Eindrücke mittels der Sprache übermitteln zu können. Dieser Austausch der Gedanken und das Erleben ist eine Vervielfachung des Naturgenießens. Das ist das Wesen der Sprache, daß sie Brücken schlägt vom Menschen zum Menschen, daß sie uns die Möglichkeit schafft, aus unsrer Einsamkeit des Einzeldaseins heraus zu kommen und uns mit andern zu einer Gemeinsamkeit zusammenzuschließen.

Alles, was dem Menschen gegeben ist, verpflichtet, also auch die Gabe des Sprechens. Diese Verpflichtung besteht vor allem darin, daß er sie stets einem Zweck verfügbar macht, der jeder Kritik Stand hält.[81]

Worte, die einem reinen, edlen Gemüt entspringen, gehn wie Engel über die Erde. Sie können dem Leidenden Mut, dem Trauernden Trost bringen. Ein kleines Wort des Lobes und der Anerkennung kann neue, ungeahnte Arbeitskräfte wecken und Erfolge steigern. – Worte können aber auch Verheerungen anrichten, wenn nämlich die Sprache von Schwätzern, Schmähern, Spöttern und Klatschbasen mißbraucht wird.

Die Macht des Wortes kann Welten versetzen. Wer das Wort so beherrscht, daß er damit überzeugen kann, verfügt über eine ungewöhnlich große Kraft. Aber: wer viel zu sagen hat, sagt meist wenig und wer wenig zu sagen hat, sagt meist viel. – Als ein junger Student den Philosophen Immanuel Kant um einen allgemeinen Rat fürs Leben bat, antwortete der Gelehrte: »Das will ich gern tut. Prägen Sie sich fest ein, daß Sie immer dann schweigen, wenn Sie Luft zum Reden haben.« – Und Goethe rät uns:


»Wenn's euch ernst ist, was zu sagen,

ist's nötig, Worten nachzujagen?«


Die gute Sitte und das Taktgefühl verlangen von uns, daß wir dem zuhören, der uns etwas zu sagen hat. Demgegenüber ist es aber Pflicht des Erzählenden, sich möglichst kurz zu fassen, nicht zu weitschweifig zu werden und weder die Zeit des Zuhörers über Gebühr in Anspruch zu nehmen, noch seine Geduld unnötigen Spannungen auszusetzen.

Das Wort, das uns in der Telephonzelle von weißem Schildchen entgegenleuchtet, sollte ein Leitspruch für unser ganzes Leben sein.

Wer Zeit hat, braucht sie andern nicht zu stehlen!

Zeit ist ein überaus kostbares Gut und die vernünftige Ausnutzung der Zeit ist eine besondere Lebenskunst. Sie ist das Geheimnis vieler besonders produktiver und erfolgreicher Menschen. Es ist nun einmal so, daß kein Mensch über seine Zeit ganz selbständig verfügen kann. Das Schicksal hat nämlich ein gewichtiges Wort mitzureden. Der Beruf, die Familie, Verwandte und Bekannte belegen unsre Zeit mit Beschlag. Immer werden wir die Zeit und das Wort gern zur Verfügung stellen, wenn es Sinn und Zweck[82] hat. Eine Vergeudung der Zeit liegt aber dann vor, wenn wir nutzlos oder auch sinnlos schwatzen oder wenn wir uns von andern endlose Tiraden anhören, die weder einen Zweck erfüllen noch irgend jemandem Nutzen bringen.

Das Schicksal stellt jedem Menschen nun einmal eine begrenzte Zeit für das irdische Leben zur Verfügung. Sie gut und richtig auszunutzen, ist die große Kunst, richtig zu leben. Wenn aber jemand über die Zeit des andern verfügt, dann sollte er sich immer vor Augen halten, was er damit tut. Jeder kann von seinem Mitmenschen Rücksicht erwarten, der Erzähler, wenn er etwas mitzuteilen hat, aber auch der Hörer, der seine Zeit dafür zur Verfügung stellt. – Reden, nur um zu reden, ist eine Angewohnheit, die nicht scharf genug verurteilt werden kann und den Schwätzer bald in Mißkredit bringt.


Von der Macht des Wortes

Lehrreich ist folgende kleine Tierfabel:

In Mittelafrika stehn auf baumloser Grasebene zwei Marabus, jeder auf einem Bein. Sagt der eine Marabu zum andern Marabu:

»Wir haben jetzt seit drei Stunden kein Wort miteinander gesprochen.«

Sagt der andre Marabu: »Schwätzer!«


*


Wahrscheinlich würde mit nutzlosem Geschwätz viel weniger Zeit vertan, wenn sich nicht zahlreiche Menschen so ungemein wichtig und interessant vorkämen. Das sind die Leute, deren Selbstsucht über alles geht, die nur von sich reden. Selbst wenn einmal das Gespräch auf andre Menschen oder Dinge übergreift, immer verstehen sie es, dank ihrer Routine, ihre eigenen Interessen in den Mittelpunkt der Unterhaltung zu bugsieren. –

Wehe dem, der an einer Telefonzelle auf solchen Zeitgenossen warten muß, der anscheinend jedes Gefühl für Zeit und Takt verloren hat! Mahnt man ihn nämlich nach zehn[83] Minuten, so wird er höchst ungemütlich, obgleich er auf seinen Vorgänger schimpfte, als dieser mehr als zwei Minuten brauchte und wahrscheinlich in drei Minuten mehr gesagt hat als jener in zehn.

Entsetzlich ist auch der »klebende« Besuch. –

Frau Leimtiegel sucht nach Beendigung ihrer Vormittagseinkäufe ihre Freundin Gerda auf. »Nur auf 'n Stups!« – sagt sie. Nun aber sprudeln die Worte heraus wie ein Wasserfall, indem auch der Zeitbegriff den Sturz in die Tiefe macht. Zehn – fünfzehn – zwanzig – fünfundzwanzig Minuten –. Gerda sitzt wie auf Kohlen. Sie würde sich die Haare raufen, wenn das nicht taktlos wäre, wenn sie damit nicht eine Freundschaft aufs Spiel setzen würde und wenn der Friseur nicht erst gestern die herrlichen Dauerwellen so schön aufgepulvert hätte. So weist Gerda nur darauf hin, daß ihr Mann mittags verreisen müsse und daß sie das Essen noch nicht fertig habe. Das rührt die Frau Leimtiegel nun aber nicht im geringsten. So etwas überhört sie. Sie will es auch gar nicht hören, denn sie hat ja so unendlich viel »Wichtiges« zu erzählen. Sie will nur eins: reden – reden –.

Feinfühlige Menschen merken immer bald, wenn sie einmal zu unpassender Zeit kommen und gehn so schnell wie möglich wieder. Die Dickfelligen sollten aber in sich gehn und lernen, auch in dieser Hinsicht Rücksicht zu nehmen, sonst wird man sie bald zu jenen Leuten zählen, die man manchmal dahin wünscht, wo der Pfeffer wächst.

Wer Zeit versäumt, muß dafür zahlen. Wer aber die Zeitversäumnis von andern bezahlen läßt, ist ein Dieb, ein taktloser Mensch.

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 81-84.
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