26. Du und der Straßenverkehr

[147] Die erstaunlich schnelle und umfassende technische Entwicklung unsres Straßenverkehrs in den letzten Jahrzehnten hat das Bild und das Gepräge unsrer Straßen völlig umgestaltet. Wenn einer unsrer Urgroßväter heute zu uns zurückkehren würde, so würden bei seinem Durchwandern einer Großstadt sein Staunen und Bewundern sicherlich grenzenlos sein. Er würde sich völlig hilflos vorkommen, denn seine psychischen wie physischen Kräfte würden versagen, so daß ihm schließlich jeder Mut schwände, auch nur einen Schritt weiterzutun. Zu dieser unüberwindbaren Furcht vor den neuen Verkehrsmitteln würde sich seine höchste Bewunderung gesellen, daß sich ein so gewaltiger, lebhafter und ununterbrochener Verkehr von Autos, Autobussen, Straßenbahnen, Lastwagen, Krafträdern, Fahrrädern, Fußgängern usw. nahezu reibungslos abwickelt. Und bei diesem, ihm wahnsinnig anmutenden Tempo!

Für solch einen vorbildlich disziplinierten und organisierten Verkehr ist allerdings Voraussetzung, daß alle Benutzer der Straße die Verkehrsregeln beherrschen und beachten. Die Menschen der Gegenwart sind zu einem großen Teil in den neuzeitlichen Verkehr hineingewachsen. Ihre Verkehrssicherheit hat eben mit der Steigerung des Verkehrs Schritt gehalten. – Mit der Steigerung des Verkehrs sind naturnotwendig auch die Gefahren der Straße gewachsen. Das ist immer unvermeidlich. Eine weitere Folge der Umgestaltung ist, daß die Menschen mehr aufeinander angewiesen sind und daß sie im Straßenverkehr viel mehr Rücksicht zu nehmen haben, als zu Zeiten, in denen man noch gemütlich in der Pferdebahn durch die Straßen der Großstadt fuhr, wo man mindestens doppelt so viel Zeit hatte, als heute und wahrscheinlich ebenso glücklich und zufrieden war, wie man es heute ist. Oder noch mehr? –

Die Steigerung des Verkehrs, der ständige Mangel an Zeit, das beschleunigte Tempo aller Verkehrsmittel und auch Fußgänger haben im Straßenverkehr einen Egoismus zur Folge gehabt, der innerliche Beschaulichkeit, Herzenstakt und Rücksicht auf andre aufs schwerste bedroht. Der aufmerksame Beobachter kann den Charakter eines Menschen daran erkennen,[147] wie sich jener im Straßenverkehr benimmt. Wer nämlich nach Anlage und Erziehung ein anständiger Kerl ist, der wird auch im dicksten Straßengewühl nicht vergessen, daß er seinen Mitmenschen Rücksicht schuldig ist und daß die andern das gleiche Recht zur Benutzung der Straße haben, wie er selbst. Das restlose Beherrschen aller Verkehrsregeln mag wohl genügen, um den Gefahren der Straße möglichst aus dem Weg zu gehn, aber diese Kenntnis ist nur eine der Voraussetzungen dafür, daß man sich in jedem Verkehr so bewegt und benimmt, wie es gute Sitte und Takt von jedem Volksgenossen, der gern gesehen sein will, vorschreiben. Es gehört viel mehr dazu.

Wir wollen uns in diesem Abschnitt nur mit dem Fußgänger beschäftigen, denn wir haben es für ratsam, ja notwendig gehalten, dem Verhalten des Kraftfahrers einen besonderen Abschnitt (28) einzuräumen.

Fußgänger benutzen in der Hauptsache die Sicherheitszone der Straße, den Gehweg (Bürgersteig) und glauben daher, an die Verkehrsregeln nicht so gebunden zu sein, weil ihr vorschriftswidriges Verhalten andre kaum in Gefahr bringt. Aber es kann sie in hohem Maße belästigen. Da ist zunächst das Linksgehen zu rügen, das den entgegenkommenden Verkehr schnell in allgemeine Unordnung bringt. Solch eine Unsitte, die teils auf Gleichgüstigkeit beruht, teils dadurch entsteht, daß man sich ein Schaufenster auf der linken Seite beschaut und dann gedankenlos auf der gleichen Seite weitergeht, sollte man sich abgewöhnen. Schon im eigenen Interesse, um teils ungewollte teils beabsichtigte Püffe andrer Fußgänger zu vermeiden.

Sehr häßlich und störend ist auch das Stehenbleiben mehrerer Personen an Ecken lebhafter Straßen. Das kann man besonders bei jungen Leuten beobachten, wenn sie sich zu zweien, dreien oder vieren lachend und gackernd verabschieden und natürlich im letzten Augenblick noch »furchtbar Wichtiges« mitzuteilen haben. Sie sind in ihrer oft sehr lauten Unterhaltung so vertieft und in ihren allzu lebhaften Bewegungen so temperamentvoll, daß sie das fortgesetzte Ausweichen andrer Straßenbenutzer – oft im großen Bogen – gar nicht bemerken. Und wenn schon, »uns gehört die Welt!« Das alberne Kichern und Kreischen verstärkt die Abneigung[148] gegen diese jungen Menschen, denen die gute Kinderstube gefehlt hat.

Bei besonders starkem Verkehr läßt es sich nicht vermeiden, daß man mal andre Personen ungewollt anstößt. Da sagt man nicht »Hoppla!« oder ähnliches, sondern entschuldigt sich kurz. – Auch in Großstädten gibt es viele alte Straßen mit so schmalen Gehwegen, daß zwei Menschen die ganze Breite einnehmen würden. In verkehrsreichen Stunden wird sich das Nebeneinandergehen nicht ermöglichen lassen. Dann muß einer der beiden – der Dame gegenüber der Herr, bei Menschen gleichen Geschlechts der oder die Jüngere – zurücktreten, wenn jemand entgegenkommt oder überholen möchte. In beiden Fällen hält man sich natürlich scharf rechts. Auf die Fahrbahn zu treten, ist nicht ungefährlich. Das Gehen zu Dreien nebeneinander stellt fast immer ein Verkehrshindernis dar.

Nun noch einige Ungezogenheiten, die den Fußgänger im Straßenverkehr sehr unbeliebt machen können:


26. Du und der Straßenverkehr

Ebenso gefährlich wie unästhetisch ist es für andre Straßenpassanten, wenn so ein Jüngling in ausgelassener Laune und erhobenen Köpfchens mit einer offenen Tüte Kirschen oder Pflaumen die Straße entlangbummelt und die Kerne auf den Gehweg spuckt. Auch Schalen von Apfelsinen,[149] Bananen usw. verstaut man am besten in der leergewordenen Tüte und praktiziert diese in den nächsten Abfallbehälter. Auch leere Streichholz- und Zigarettenschachteln gehören dahin und nicht auf die Straße. – Ein vergnügtes leises Vorsichhinpfeifen oder Summen ist ein Beweis von froher Laune und wird niemanden stören. Wer aber, gar in angeheitertem Zustand, laut singt oder richtiger gesagt: gröhlt, fällt höchst unangenehm auf. Für nächtliche Ruhestörungen nach fröhlichen Zechgelagen gibt es arbarmungslos Ordnungsstrafen. Und das ist gut. –

Wenn wir auf der Straße jemanden beobachten, der fremder Hilfe bedarf, so sind wir natürlich sofort zur Stelle. Ein Flegel, der sich bei solch einer Gelegenheit drückt. Er sollte bedenken, wie es ihm ergehen würde, wenn er mal hilflos auf der Straße läge und kein Mensch kümmerte sich um ihn. – Was in dem Augenblick zu geschehen hat, wo jemand Hilfe braucht, wird jeder hilfsbereite Volksgenosse wissen. Ein energischer Mensch wird sofort die Initiative ergreifen und gegebenenfalls andre veranlassen, Hilfsdienst im einzelnen zu leisten, einen Arzt, den Sanitätswagen oder die Polizei zu holen und den Hilfsbedürftigen an einen sicheren Ort zu transportieren. –

Es gibt auch kleine, unangenehme Dinge, die man selbst vielleicht übersieht. Da sieht eine Frau, daß eine vor ihr gehende Frau ein Riesenloch im Strumpf hat. Sie wird sie höflich darauf hinweisen. Vielleicht ist der Schaden bald behoben. – Oder es lockert sich der Faden eines Pakets usw. – Vor mir geht ein Soldat, dessen Koppel sich verschoben hat. Er ist dankbar, wenn ich ihn darauf aufmerksam mache. – An dem Schuh eines vor mir gehenden Herrn hängt ein Schnürsenkel gefahrdrohend herunter. Er wird nicht darüber stolpern, denn ich sage ihm das Notwendige.

Oft sind junge Mütter, die mit ihren Kindern unterwegs sind, besonderer Hilfe bedürftig. In solchen Fällen wird der guterzogene Mensch sich besonders gern zur Verfügung stellen. Der dankbare Blick der Mutter wird für die kleine Mühe ein reicher Ausgleich sein. – Ein alter Mann, der sich mit seinem vollbepackten Handwagen die ansteigende Straße hinaufquält, wird sich über die tatkräftige Unterstützung eines jungen Mannes sehr freuen. – Eine Dame,[150] die mehrere Paketchen trägt, hat einen Handschuh verloren, ohne es zu merken. Der ihr zufällig folgende Herr überreicht ihr den aufgenommenen Handschuh mit kurzer Verbeugung, nachdem er ihn von etwaigem Straßenstaub gesäubert hat.

So gibt es im Straßenleben tausend Gelegenheiten, bei denen der Mensch unter Beweis stellen kann, daß er Takt und Herzensbildung besitzt. Hier kann aber auch die schlechte Gesinnung eines Menschen offenbar werden, was sich oft bitter rächen wird, denn oft sind ganz unwichtige Begebenheiten die Ursache bedeutsamer Schicksalswendungen.

Wie sieht die Praxis aus? – Wie steht es mit der Gefälligkeit, Kameradschaftlichkeit und Hilfsbereitschaft im Straßenleben? – Leider kann man allzu häufig Beobachtungen machen, die von krassester Selbstsucht Zeugnis ablegen.

»Ich würde ja gern helfen, aber ich habe wirklich keine Zeit!« – das ist die Redensart, die man leider allzuoft zu hören bekommt. In 99 v.H. aller Fälle sind das nichts weiter als faule Ausreden. Bei manchem wird hinterher die Reue kommen. Das sind noch nicht die schlechtesten. Sie werden sich vornehmen, bei der nächsten ähnlichen Gelegenheit sich sofort zur Verfügung zu stellen. Allerdings, ob sie Wort halten?

Besonders in der Großstadt kommt es zuweilen zu Menschenansammlungen. Oft ist die Ursache lächerlich bedeutungslos. Man bleibt stehn und gafft und gafft. Manche der Stehenbleibenden wissen gar nicht, um was es sich eigentlich handelt. Aber, wo Menschen stehn, muß schon was los sein, denken sie. Seltsam, wieviel Zeit manche Menschen bei so nichtigen Anlässen plötzlich haben können, die vielleicht vor fünf Minuten, als ihre Hilfe dringend notwendig war, erklärten, sie hätten es leider furchtbar eilig. Ja, ja, da lernt man Menschen kennen. –

Ansammlungen aller Art sollte man nach Möglichkeit aus dem Wege gehn. Reine Neugier ist eine schlechte Eigenschaft. Ein zweckloses Stehenbleiben bedeutet nichts weiter als Zeitversäumnis, oft sind damit auch Gefahren verknüpft.

Schwankende Menschen, die ein Glas zuviel tranken, sind im Straßenbild erfreulicherweise seltene Gestalten geworden.[151] Wird man von so einem Zecher angerempelt, so empfiehlt es sich, schweigend weiterzugehn. Es gibt nämlich Volksgenossen, die höchst ungemütlich werden können, wenn sie blau oder bläulich sind. – Hier ist das Wort »Der Klügere gibt nach« bestimmt am Platze.

Takt im Straßenverkehr zeigt sich auch in der Beherrschung und Befolgung der üblichen Anstandsregeln. Schon jeder junge Mensch weiß, daß der ältere, die Frau oder der Höherstehende rechts geht. Eine Ausnahme kommt in Frage, wenn der Herr mit einer Dame auf der linken Gehwegseite der Straße geht. Um der Dame das unmittelbare und nicht ganz gefahrlose Gehn am Bordstein zu ersparen, soll der Herr auf dieser Strecke rechts gehn.

Befindet sich eine Dame in der Begleitung zweier Herren, so wird sie natürlich in die Mitte genommen. Und wie ist es bei zwei Damen und einem Herrn? – Der Herr geht in der Mitte, wenn die beiden Damen jung und etwa gleichaltrig sind. Befindet er sich dagegen in der Gesellschaft einer älteren Dame und deren Tochter, einer Nichte oder einer jüngeren Bekannten, so wird die ältere Dame brav in die Mitte genommen, rechts von ihr geht die jüngere Dame und links der guterzogene Kavalier. Es wird dabei vorausgesetzt, daß der Gehweg breit genug ist, ein Gehn zu dreien zu gestatten. – Der Herr tritt stets hinter die Dame oder den rechts gehenden Herrn, wenn der Gehweg ein Nebeneinandergehen nicht zuläßt. – Haben sich Dame und Herr durch ein Menschengewühl zu drängen, so geht der Herr vorn, um der Dame einen Weg zu bahnen.

Menschen, die sich kennen und auf der Straße sehen, erweisen sich gegenseitig den deutschen Gruß. Ein Abnehmen der Kopfbedeckung gibt es nicht mehr. Der Herr begrüßt die Dame, der jüngere den älteren Herrn. Das weiß jedes Kind. Auf ein Angeredetwerden wartet bei Herren der jüngere, bei Herr und Dame die letztere. Beim Gruß die Zigarre im Mund oder die linke Hand in der Mantel- oder gar in der Hosentasche zu behalten, beweist hochgradige Taktlosigkeit. – Zwei Herren, die gegrüßt werden, haben ihre Unterhaltung für diesen Augenblick zu unterbrechen. – Auch wenn nur der eine der beiden Herren als Bekannter gegrüßt wird, hat der andre mitzugrüßen. Wird der Bekannte[152] von jenem Dritten angeredet, so wird sein Begleiter langsam allein weitergehn, in der Annahme, daß es sich um ein kurzes, vertrauliches Gespräch handelt. Andernfalls wird er zum Bleiben veranlaßt und vorgestellt werden.

Geht ein Braut- oder Ehepaar zusammen und kommt ihm eine bekannte Dame entgegen, so muß das Paar zuerst grüßen. Wenn der Mann diese Dame nicht kennt oder nicht erkennt, muß die Frau in geeigneter Form ihm ein Zeichen geben.

Nun kommen auch Fälle vor, in denen wir dem Gruß eines uns unsympathischen Zeitgenossen aus dem Weg gehn möchten. Dazu gehört etwas Geschicklichkeit. Einen Gruß unerwidert zu lassen, ist in jedem Fall taktlos. Es kann aber die andre Seite der Straße oder ein Schaufenster zum rettenden Engel werden. Man will ja nicht offensichtlich verletzen. Darum darf man auch das Gesicht nicht ostentativ abwenden, wenn der andre naht. –

Unser überaus erfreulicher Geburtenüberschuß in Deutschland hat eine wesentliche Zunahme der Kinderwagen im Straßenbild zur Folge. Das ist uns Veranlassung, uns über jeden Kinderwagen zu freuen. Diese Freude erfährt indes eine kleine Beschränkung, wenn die junge Mutter beim Schieben des Wagens nicht nach vorn, sondern nach der andern Straßenseite oder in die Schaufenster guckt und infolgedessen die vor ihr gehenden Passanten abwechselnd ins Kreuz und gegen die Fersen stößt. – Kinderwagen machen auch einen viel besseren Eindruck, wenn sie einzeln gefahren werden. Oft sieht man zwei Kinderwagen nebeneinander auf dem Gehweg. Diese Fahrweise ermöglicht den Müttern zwar eine angeregte Unterhaltung, den Passanten aber kein Weiterkommen auf dem Gehweg. Da sind Verkehrsstockungen unvermeidbar.

Zwischen dem Fußgänger- und dem Autoverkehr steht das Radfahren. Das Rad ist ein so bedeutsames Verkehrsmittel geworden, daß es Millionen Volksgenossen ganz unentbehrlich geworden ist. Das Radfahren ist grundsätzlich nur auf dem Fahrdamm oder auf dem Radweg gestattet. Jeder Radler muß eine Glocke am Rad führen, um Menschen zu warnen, die etwa vor ihm die Fahrbahn überschreiten wollen und andern Radfahrern anzuzeigen, daß sie überholen[153] wollen. Es ist rücksichtslos, scharf an Fußgängern vorbeizufahren ohne oder erst im Augenblick des Überholens zu klingeln. Vor allem alte Leute bekommen dabei immer einen großen Schrecken. Leider gibt es noch viele Radfahrer, die daran einen besonderen Spaß haben! – Kindern sollte man immer wieder einprägen, daß die Straße weder eine Radrennbahn noch ein Sportplatz ist. Im Interesse der Kinder und des Verkehrs.

Die Fortbewegung auf Rollschuhen und auf Rollern bereitet Kindern zweifellos eine große Freude, die wir ihnen von Herzen gönnen. Aber auch dieser Sport sollte nur da ausgeübt werden, wo der Verkehr die Kinder und die Kinder den Verkehr nicht gefährden. Wer als Fußgänger schon einmal von solch einem Roller angefahren wurde, weiß, wie empfindlich solch eine Angelegenheit ist.

Nun wollen wir die Straße für einen Augenblick verlassen und eins der großen Ladengeschäfte betreten, um hier einmal über die lieben Menschen Studien zu machen. Unter den vielen Kunden herrscht das zarte Geschlecht vor. Es ist Hauptgeschäftszeit und das gesamte Verkaufspersonal ist angespannt, um den vielen Wünschen der Kunden gerecht zu werden.

Mit einer Engelsgeduld und einer gleichbleibenden Liebenswürdigkeit bedient die erste Verkäuferin eine Dame, die eine Bluse kaufen möchte. Soeben wird ihr die achtzehnte vorgelegt.

»Nein, es ist immer noch nicht das Richtige,« erklärt sie. »Wissen Sie, Fräulein, hellgrün paßt an sich ganz gut zu meinen Haaren, aber es müßte doch etwas heller sein, als dieses. Sehen Sie mal hier, dieser Farbton vielleicht – –«

»Die Bluse gefiel der gnä' Frau aber doch nicht.«

»Stimmt, stimmt. Die Streifen sind mir zu breit. – Wenn sie zwei Millimeter schmaler wären – –«

In diesem Augenblick wird die Kundin von einer Bekannten begrüßt, mit der sie im vorigen Sommer zusammen in Ahlbeck war. Ebenso gedanken- wie rücksichtslos dreht die Kundin der Verkäuferin, die innerlich bereits kocht und sich die herrlichen Haare raufen möchte, den Rücken zu, um nun die Bekannte aus Ahlbeck herzlich zu begrüßen und mit ihr in breitester Form die Erinnerungen von der Ostsee auszutauschen.[154] Während dieser äußerst lebhaften Unterhaltung steht die Verkäuferin verzweifelt vor ihren achtzehn Blusen, die neunzehnte in der Hand. Sie muß Rücksicht auf die Kundin nehmen, die aber in diesem Augenblick für tausend andre Dinge mehr Interesse hat, als für die Blusen. Schon naht der Geschäftsführer, der alles beobachtet hat, um sich von der Verkäuferin kurz berichten zu lassen, und unablässig kommen neue Kunden in den Laden, um bedient zu werden. Als sich dann die Verkäuferin nach ihrer Kundin umsieht, ist diese verschwunden. Ohne einen Gruß, ohne Entschuldigung, ohne ein Wort des Dankes für die geduldigen und noch dazu zwecklosen Bemühungen ist sie gegangen und wahrscheinlich wird das gleiche neckische Spiel im nächsten Geschäft von neuem beginnen.

Und das ist eine Frau, die von sich behauptet, »hochgebildet« zu sein und Takt in ganz großer Form zu besitzen!

Das wäre ein besonders konstruierter Fall? – O bitte, gehn Sie nur einmal als stiller Beobachter hinein in so ein Geschäft. Wahrscheinlich werden Sie feststellen, daß es in Wirklichkeit oft noch schlimmer ist.

Jedes Wort der Kritik dürfte sich erübrigen. Solch ein Mangel an Menschlichkeit, an sozialem Empfinden und Takt steht im krassesten Widerspruch zu den Auffassungen der Volksgemeinschaft. Jeder Kauf besteht in Leistung und Gegenleistung. Wer Rücksicht verlangt, muß auch Rücksicht nehmen, wo es auch immer sei. Sonst hat er nicht das Recht, sich taktvoll zu nennen. –

Wenn ein Verkäufer oder eine Verkäuferin nach vielen Stunden schwerer Arbeit in ihren Bewegungen etwas langsamer wird und nicht so oft wie sonst »gnä' Frau« sagt, ist das noch längst kein Grund, aufzufahren und etwa das Geschäft meckernd zu verlassen. Wer vor dem Ladentisch menschlich denkt, wird ermessen können, wie dem hinterm Ladentisch zumute ist, der neben seinem gerüttelten Maß an Arbeit so viel Unhöflichkeit und Rücksichtslosigkeit mancher Kunden über sich ergehen lassen muß. –

Natürlich gibt es auch heute noch Geschäfte, in denen die Bedienung sehr zu wünschen übrig läßt. Da ist eine Kritik des Kunden durchaus am Platze. In solchen Fällen kann man schon mal sagen:[155]

»Bemühen Sie sich nicht weiter. Ich werde in ein Geschäft gehn, in dem ich zuvorkommend bedient werde.« Das ist ein gutes Erziehungsmittel.

Wer einen Laden betreten will, tue es grundsätzlich erst dann, wenn er genau weiß, was er will. Leider kann man das Gegenteil allzu oft beobachten. Die Folge ist meist, daß man schließlich eine Ware kauft, mit der man nichts anzufangen weiß. Wer nicht weiß, was er will, läuft natürlich auch Gefahr, daß ihm irgend etwas aufgeschwatzt wird. Das ist immer sehr ärgerlich. Übrigens wird ein kluger und weitsichtiger Geschäftsmann nicht immer nur darauf bedacht sein, seine Ware loszuwerden, sondern wird Wert darauf legen, daß der Kunde an dem, was er bei ihm kauft, dauernd Freude hat. Das ist wirklicher Dienst am Kunden.

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 147-156.
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