27. Sonst noch jemand ohne Fahrschein?

[156] Gegen Abend kommt meine Frau von ihren Einkäufen heim und erzählt unter anderm, daß sie mit der Straßenbahn gefahren sei.

»War der Wagen wieder so stark besetzt?« frage ich.

»Furchtbar,« erwidert sie, »sogar einige Herren mußten stehn!«

Leider ist das ein kennzeichnendes Stückchen aus dem praktischen Verkehrsleben. – Man wird behaupten können, daß Takt und Gesinnung eines Menschen kaum so unverhüllt zutage tritt, wie in der Straßenbahn.

Schon beim Einsteigen fängt's an.

Wenn der Wagen, der mich morgens in das Stadtinnere bringen soll, an meiner Haltestelle stillsteht, ist er zum weitaus größten Teil schon besetzt. Aber an dieser Haltestelle warten etwa zwölf Personen, meist dieselben. Und jeden Morgen setzt in dem Augenblick, wo der Wagen anhält, ein allgemeiner Sturm, ein rücksichtsloses Drängen, Stoßen, Vorwärtsschieben und Puffen ein. Dieses Dutzend Fahrgäste müßte aus der täglichen Übung allmählich gelernt haben, erstens, daß sie alle mitkommen und zweitens, daß in diesem Augenblick kein Sitzplatz im Wagen mehr frei ist, aber ihre Logik scheinen diese noch etwas schlaftrunkenen Menschen für die ersten Morgenstunden beurlaubt zu haben.[156]

Es ginge doch alles viel schöner, wenn jeder ruhig und vernünftig wäre, wenn sich vor allem die sogenannten Kavaliere nicht so vordrängten und von ihren Ellenbogen Gebrauch machten, sondern lieber dafür sorgten, daß die Frauen, Kinder und älteren Leute, vielleicht auch Kriegsbeschädigte, unbehelligt einsteigen könnten.

Wie jeden Morgen stehe ich auch heute im Wagen. Das ist mir übrigens ganz lieb, da kann ich nämlich die lieben Mitfahrenden viel besser studieren. Und das ist immer interessant.

Da sitzt halblinks jener junge Mann, der für die Beendigung seiner Morgentoilette zu Hause nie genügend Zeit zu finden scheint. Denn regelmäßig beschäftigt sich dieser Rüpel, wenn auch etwas versteckt, mit seinen Fingernägeln. Unsympathisch berührt wende ich mich ab.

Da treffen meine Blicke jenen recht umfangreichen Herrn, der mit gespreizten Armen eine Zeitung größeren Formats liest. Links neben ihm sitzt ein schüchterner junger Mann und rechts ein Backfisch in hellblauer Bluse. Der Jüngling muß sich in den Hüften ganz nach links, der Backfisch ganz nach rechts beugen, sonst bekommen sie die äußersten Ecken der Zeitung dieses Flegels in die Nase. Und das möchten sie natürlich vermeiden.

Nun hat dieser Zeitungsleser einen ganz stillen Teilhaber. Das ist ein Jüngling, der ihm gegenübersitzt. Er ist ganz in sich zusammengesunken. Nicht etwa, weil ihn ein Kummer plagt, sondern weil er in dieser Stellung die Rückseite der Zeitung besser lesen kann. Der dicke Herr sieht das nicht, sonst würde er wahrscheinlich knurren, und sogar mit Recht, denn schließlich hat jeder genug Grund, sich zu ärgern, wenn ein andrer seine Zeitung zu gleicher Zeit mitliest. Das ist auch sehr taktlos.

Bei der nächsten Haltestelle hat der manikürende Jüngling seine Tätigkeit zur Zufriedenheit beendet. Fahrgäste steigen aus, andre kommen hinzu. Ein kesses Mädel ist darunter, das den Jüngling mit den jetzt sauberen Fingernägeln zu beeindrucken scheint. Er springt auf und überläßt dem Mädel mit knapper Verbeugung und entsprechender Handbewegung ein wenig lächelnd seinen Sitzplatz. Auch sie lächelt und setzt[157] sich. Beide sind glücklich. Gleich hinter dem anziehenden Mädel stand eine alte, gebrechliche Frau, die sich erst längere Zeit nach einem Sitzplatz umsehen muß, bis sich ein Herr erbarmt. Der Herr mit den sehr sauberen Fingernägeln wäre bei seiner Taktlosigkeit gar nicht auf den Gedanken gekommen, ihr seinen Platz anzubieten, denn ihr Lächeln hätte ihm nichts gegeben. Schade, sehr schade!

Wieder hält der Wagen an. Eine reisefertige Familie, Mann, Frau und zehnjähriger Sohn, steigen ein. Der Vater schimpft über die Zustände der Straßenbahn, vor allem darüber, daß wieder kein Sitzplatz frei sei.

»Aber du sitzt doch, Vati,« erlaubt sich das Söhnchen ganz bescheiden zu bemerken.

»Das schon,« erwidert der Papa, »aber die arme Mutti muß stehn!«

Egoismus in Reinkultur. – Kommentar erübrigt sich. –

Der Sitzplatz in der Straßenbahn und der Fensterplatz in der Eisenbahn sind mit die besten Prüfsteine für den Charakter und die inneren Werte des Menschen. Wer Takt besitzt und Herzensbildung, wird als gesunder Mensch seinen Sitzplatz nicht nur jungen und schönen Damen, sondern zuerst alten müden Frauen oder gebrechlichen Männern, vor allem auch Kriegsbeschädigten oder Schicksalskrüppeln bereitwillig anbieten. Wer nicht so handelt, verdient keine Achtung. –

Vorn rechts sitzen zwei Herren, die anscheinend im gleichen Betrieb tätig sind. Besonders der eine von beiden hat immer eine ganze Menge »sensationeller« Neuigkeiten auszupacken. Meist stehn die Mitmenschen im Mittelpunkt seiner Berichte. Schlimm ist dabei, daß fast die Hälfte der Fahrgäste des Wagens diesen Tratsch volens nolens mit anhören muß, weil jener Erzähler allzu verschwenderisch mit seinem Organ umgeht. Oft hört man sogar einzelne Namen. Alle ärgern sich über diesen geräuschvollen Flegel, der bei seiner Taktlosigkeit das nicht einmal merkt.

Hin und wieder besteigt jemand mit Lasten, mit Gepäck, einer Kiepe oder einem Koffer die vordere Plattform. Da kann ich zwei Herren beobachten, die es für eine selbstverständliche Pflicht halten, den Einsteigenden freundlich zu helfen. Das ist wirklich nett. Ein andrer Herr, der dem Eingang am nächsten steht, bleibt in seiner Stocksteifheit[158] immer unbeweglich und steckt nur jedesmal eine unzufriedene, fast entrüstete Miene auf. Vielleicht denkt er, das sei vornehm. Was die andern aber denken, weiß er offenbar nicht.

Wohl ein Dutzend mal hat der Schaffner im Wagen – fast mechanisch – gefragt: »Sonst noch jemand ohne Fahrschein?« – Jetzt guckt er einen Herrn in den mittleren Jahren scharf an, der seinen Blick sofort zur Seite wendet.

»Haben Sie schon einen Fahrschein?«

»Ach, das hab' ich ganz vergessen,« erwidert dieser, während ihm die Schamröte ins Gesicht steigt. Mindestens zwölf Augenpaare sind plötzlich auf ihn gerichtet, der am liebsten in die Erde sinken möchte, was sich aber im Augenblick leider nicht ermöglichen läßt. Der gute Mann hätte sich diese äußerst peinliche Situation ersparen können, wenn er ehrlich gewesen wäre. Er wird schon gewußt haben, daß seine Handlung strafbar ist, denn jeder Fahrgast ist verpflichtet, auch ohne Aufforderung einen Fahrschein zu lösen. Außerdem hat der Mann die häufige Frage des Schaffners offenbar bewußt überhört. Das ist mehr als Taktlosigkeit, das ist ein Betrugsversuch.


27. Sonst noch jemand ohne Fahrschein

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 156-159.
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