29. Achtung! – D-Zug Richtung München – Bahnsteig 8!

[166] Wer mit offenen Augen reist, wird all die Menschen, die er auf dem Bahnhof, auf dem Bahnsteig, in der Bahn, im Hotel usw. antrifft und zu beobachten Gelegenheit hat, in zwei große Gruppen einteilen. Die einen sind die routinierten Reisenden, die durch ihre Geschicklichkeit, durch ihre umfassenden Verkehrskenntnisse, durch ihre beneidenswerte Ruhe und gewiß nicht zuletzt durch ihr selbstsicheres Auftreten der zweiten Gruppe von Reisenden imponieren. Das sind die gelegentlichen Reisenden. Die ersteren reisen, um an Konferenzen teilzunehmen, Geschäfte zu machen, Informationen zu erteilen oder einzuholen, Geschäftsfreunde zu besuchen, kurz, um marktfähig zu bleiben, während die Reisenden der zweiten Gruppe in überwiegender Zahl die[166] Eisenbahn entweder aus Erholungsgründen oder zwecks Besuches von Verwandten, Bekannten und Freunden benutzen.

Manche dieser Gelegenheitsreisenden, die durch ihre Unsicherheit oft auffallen, möchten den Mitreisenden gegenüber gern den Eindruck altroutinierter Reisender oder Globetrotter machen. Sie sollten das nicht tun. An sich ist das wohl ein recht harmloses Vergnügen, aber sie laufen Gefahr, sich bei jeder Gelegenheit zu blamieren. Schlimmer ist aber, daß viele dieser Blender ihren Mitreisenden oft durch allerlei Rücksichtslosigkeiten zu imponieren oder ihren Mangel an Reisetechnik durch die lächerlichsten Gesten zu verdecken suchen.

Auch hier gilt: wer sich natürlich gibt, wird immer den besten Eindruck machen und auch in der Eisenbahn beliebt sein.

Nun ist allerdings nicht zu bestreiten, daß der Genuß einer Reise in hohem Maß davon abhängig ist, ob der Reisende über die unentbehrliche Reisetechnik verfügt und – wie er sich zu den Menschen stellt, mit denen ihn die Reise in die verschiedensten Beziehungen bringt. Wer Erfahrungen im Reisen hat, wird schon oft festgestellt haben, daß Menschen mit Takt und Herzensbildung viel weniger Mißerfolge und Enttäuschungen erleben, als rücksichtslose, selbstsüchtige Menschen. Daran kann auch die beste Reisetechnik nichts ändern.

Das Rücksichtnehmen auf Mitreisende beginnt eigentlich schon in dem Augenblick, wo man daheim über die Gepäckfrage spricht, wie ja überhaupt eine Reise, vor allem eine Erholungs- oder Vergnügungsreise längst vor dem Reiseantritt beginnt. Sie zerfällt immer in drei Teile: in die Vorfreude mit den Plänen und Vorbereitungen, in die Reise selbst und in die Erinnerung. – Das Reisegepäck hat verschiedene Möglichkeiten, unser Reiseziel zu erreichen. Wir können es mit in unser Abteil nehmen, können es als Gepäckfracht, als Expreßgut oder als Postpaket aufgeben. Wir sollten uns bei jeder Reise zur Regel machen, möglichst wenig Gepäck im Gepäcknetz zu verstauen. Einmal der Mitreisenden wegen, weiter auch unseretwegen. Die meisten Menschen wissen gar nicht, daß sie Gepäck nur in beschränktem Umfang mit ins Abteil nehmen dürfen, nämlich so viel, wie sie in[167] dem Gepäcknetz über ihrem Sitzplatz unterbringen können. Gewiß dort kann man mehrere Koffer aufschichten. Aber wer bietet Gewähr dafür, daß die Koffer, Kisten und Schachteln immer da oben bleiben, ob sie nicht gelegentlich einmal, vielleicht in einer Kurve, einem Mitreisenden aufs Köpfchen fallen? – Natürlich haftet dann in jedem Falle der Eigentümer der fallenden Koffer.

Wir sollten bei einer größeren Reise immer zwischen großem und kleinem Gepäck unterscheiden. Ersteres geben wir am besten auf und versichern es auch, das letztere, das in einem kleinen, handlichen Koffer Übernachtungszeug, vielleicht auch Proviant, Lektüre usw. aufnimmt, nehmen wir mit ins Abteil. Dann fällt sowohl jede Schlepperei auf den Bahnsteigen, beim Ein- und Aussteigen und in den Gängen des Zuges wie auch das Hinaufbefördern ins Gepäcknetz fort, bei dem man noch oft die Hilfe hilfsbereiter Mitreisender erbitten muß und schließlich andre in Gefahr bringt. Viele schleppen sich dauernd mit ihrem sehr umfangreichen Gepäck herum, um zu sparen. Das ist sehr töricht. Nicht der Betrag ist ja entscheidend, den wir für die Aufgabe des Gepäcks zu entrichten haben, sondern welchen – meist lächerlich geringen – Bruchteil dieser Betrag im Rahmen der gesamten Reisekosten ausmacht. Wir wollen unser Augenmerk doch immer darauf richten, daß auch die Eisenbahnfahrt schon zu einem Genuß wird. Wir wollen nicht nur reisen, um anzukommen, sondern wollen schon im Abteil und vom Abteil aus viel sehen, viel hören und viel erleben. Das ist Lebenskunst und Reisetechnik.

Unser großes Reisegepäck wurde bereits gestern abgeholt und rollt nun schon dem Ziel unsrer Reise entgegen. Uns selbst und unsern kleinen Handkoffer bringt ein Taxi zum Bahnhof. Fahrkarten haben wir natürlich schon. Meine Frau und ich sind praktisch gekleidet. Olly trägt, da es reichlich warm ist, einen dünnen Rock mit luftiger Bluse, darüber eine ärmellose Weste. Schick und praktisch ist ihr neues, braunes Reisehütchen. Ihre braunen Lederschuhe sind derb und bequem, so daß sie von Fußbeschwerden sicher verschont bleiben wird.

Auch ich habe mich natürlich praktisch angezogen. Eine leichte Reisemütze schützt mein Haar vor dem unausbleiblichen[168] Ruß und Reisestaub. Sehr angenehm zu tragen ist das Sporthemd mit weichem Kragen. Wird es im Laufe des Tages besonders warm, so verschwindet die Schleife und der Kragen wird aufgemacht, das wirkt gewiß nicht unästhetisch, bedeutet aber eine wesentliche Erleichterung. In unserm Reisegepäck haben wir noch einen leichten Pullover, es könnte schließlich auch mal sehr kühl werden. Die zu dem bequemen Sportsakko passenden Knickerbocker weiß ich auf Reisen besonders zu schätzen. Sie sitzen sehr bequem und man braucht sich nicht, wie bei langen Hosen, um die frisch aufgebügelten Knicke zu sorgen. Olly und ich haben auch leichte Regenmäntel bei uns, die wir nicht aufhängen, weil sonst beim Sitzen leicht die Aufhänger abreißen, sondern ins Gepäcknetz legen.

Oft kann man auf Reisen darüber staunen, wie unpraktisch viele Fahrgäste gekleidet sind. Vor allem das zarte Geschlecht legt oft auf besonders »vornehme« Kleidung wert. Der Schein soll das Sein ersetzen und das wirkt immer parvenüenhaft. Daran beispielsweise, daß die weißseidenen Blusen unter den Einwirkungen des Reisestaubs, des Rußes usw. bald unansehnlich werden, denken sie nicht. –

Während ich neben meiner Frau auf dem Bahnsteig noch diese und ähnliche Beobachtungen gemacht habe, rollte der D-Zug ein. – Mit einem Male kommt die Menge wartender Menschen in lebhafte Bewegung. Türen fliegen auf und die sich arg zusammendrängenden Menschen mit viel oder wenig Gepäck warten, bis die ankommenden Fahrgäste ausgestiegen sind, die stürmend abhauen, um noch eine Autotaxe zu schnappen. – Im gleichen Augenblick drängen sich die wartenden Menschen teils ruhig, meist aber hastig und lärmend die Stufen hinauf in die Wagen. Die Gänge sind von hastendem Leben erfüllt und bald verstopft. Man stößt sich an den großen und schweren Gepäckstücken oder tritt sich auf die Füße. Nun feiert die Rücksichtslosigkeit wahre Orgien, denn das große Suchen nach Fensterplätzen hat begonnen. Oft siegt die brutalste Ellenbogenfreiheit. Es gibt eben in der Eisenbahn keine Rücksichten, sondern nur Fensterplätze. –

Wenn auch meine Frau vor mir eingestiegen ist, so läßt sie mich beim Suchen der Sitzplätze doch vorangehen. Beim Aussteigen verläßt – nebenbei gesagt – der männliche Begleiter[169] zuerst den Wagen, um der Dame vom Bahnsteig aus behilflich sein zu können. –

Ich habe zwei gute Plätze gefunden und habe nicht gefragt: »Verzeihung, sind diese Plätze wohl frei?« – weil das überflüssig ist. Ein unbelegter Platz ist stets frei, selbst wenn darüber im Netz Gepäck liegt. Entscheidend ist immer nur das Belegen der Sitzfläche. Ein Hinlegen von Zeitungen bleibt ohne Wirkung. Nicht allgemein bekannt ist die Bestimmung, nach der jeder Reisende die Gebühr von drei Mark zu entrichten hat, der mehr Plätze belegt, als ihm für sich und für die in seiner Gesellschaft reisenden Fahrgäste zustehen.


29. Achtung! D-Zug Richtung München - Bahnsteig 8!

Ich lege also schnell auf einen Platz zunächst meinen Handkoffer und auf den andern meinen Hut. So, nun brauchen wir uns nicht mehr zu sorgen, denn jetzt haben wir auf die belegten Plätze rechtlichen Anspruch. – Also machen wir es uns im Abteil bequem, nachdem wir die Mitreisenden höflich begrüßt haben. Zunächst gleitet ein flüchtiger Blick über diese Volksgenossen, mit denen wir wahrscheinlich viele Stunden lang einen verhältnismäßig engen Raum teilen werden. Ein Ehepaar mit zwei Jungen im Alter von drei und fünf Jahren sitzt uns gegenüber. Wir kommen mit ihnen schnell ins Gespräch. Meine Frau wundert sich darüber, daß die Fahrt den Rindern offenbar nicht langweilig wird. Aber die junge Mutter versteht ihre Sache vortrefflich.

»In der ersten Stunde der Fahrt haben die Jungen aus dem Fenster geschaut,« erklärt sie. »Nun haben sie alles, was da draußen in wechselnden Bildern vorbeizieht, eifrig studiert. Dann haben sie sich eine Weile mit dem Innern des Abteils beschäftigt und natürlich nach dem Zweck jedes Knöpfchens und Metallteils gefragt. Jetzt üben die da draußen auf- und absteigenden Telegraphendrähte auf sie keinen Reiz mehr aus. Sie haben auch genug Kühe gesehen. Also beschäftigen sie sich, wie Sie sehen, mit einem neuen Bilderbuch. Kleine Geduldspiele, die ich ebenso vorsorglich[170] eingepackt habe, werden dann weiter dafür sorgen, daß die Kinder nicht ungeduldig werden.«

Die Frau ist eine wahre Lebenskünstlerin und ihre Rücksichtnahme auf die Mitreisenden ist vorbildlich. Tatsächlich haben die beiden Jungen während der ganzen Fahrt die allgemeine Unterhaltung nicht gestört. Und noch eins: beide Eltern waren klug und taktvoll genug, den Mitreisenden die »fabelhaften« Künste der »hochintelligenten« Kinder nicht vorzuführen, wodurch sie erstens erreichten, daß die Kleinen nicht eitel und zweitens die Fahrgäste nicht zu Heuchlern wurden.

Die Frage, ob die Fenster offen oder geschlossen sein sollen, wird unter uns verständigen und verträglichen Menschen nur gestreift. Wir einigen uns schnell dahin, daß sie während der Fahrt geschlossen bleiben, daß sie aber bei jedem Aufenthalt des Zuges heruntergelassen werden. Wir brauchen also die Entscheidung des Schaffners in keinem Falle.

Die Unterhaltung im Abteil wird allmählich lebhafter. Es fallen mir zwei einzelne Herren auf, die zuerst einen auffallend schweigsamen, verschlossenen und unnahbaren Eindruck machten. Sie haben sich nun beide als sehr lebhafte und sogar lustige Gesellschafter entpuppt. Der jüngere Herr in hellem Reiseanzug liest in einigen der kleinen Bücher »In der Westentasche«1, die die besondere Eigenschaft haben, die Zeit der Eisenbahnfahrt zu kürzen und Humor in vielerlei Gestalt zu vermitteln. Ich beobachte, wie dieser Herr eine ganze Zeitlang vor sich hinlächelt. Dann aber konnte er doch nicht mehr alles für sich behalten. Er las aus dem Büchlein, das ihn gerade fesselte, vor, und schuf damit schnell eine famose, lustige Stimmung im Abteil. Wir alle fühlten uns bald wie eine Familie.

Als wir Göttingen und Eichenberg hinter uns hatten, traten Olly und ich in den Gang, um die landschaftlichen Reize des entzückenden Werratals zu bewundern, das wir von früheren gemeinsamen Reisen her genau kennen. Rechts an dem großen Fenster lehnt ein Herr, der ein auffallend großes Redebedürfnis hat und sich in der Rolle eines Fremdenführers offenbar sehr wohlfühlt. Er erzählt des[171] langen und breiten, daß er bereits 1935 an dem Bau der gewaltigen Autobahnbrücke vor Hannoversch-Münden beteiligt gewesen sei, daß er damals im »Letzten Heller« sehr gut gewohnt habe, wie gut die Verpflegung gewesen sei, daß ihm in dieser Zeit seine Frau durchgebrannt wäre, daß er sich habe scheiden lassen und daß ein Bruder seines Onkels ... – Es war fürchterlich! Dieser aufdringliche Schwätzer brachte uns um jeden Genuß, um jede Freude. Jawohl, auch solche Reisegenossen gibt es. –

Es ist zwar sehr angenehm aber durchaus nicht unbedingt notwendig, die Nacht im Schlafwagen zu verbringen, alle Mahlzeiten im Speisewagen einzunehmen usw. Man kann auch mit einer nicht allzu prallen Brieftasche viel Genuß vom Reisen haben, wenn man über ein frohes Gemüt verfügt, für alle Schönheiten empfänglich ist und wenn man versteht, allen Ärgernissen geschickt aus dem Weg zu gehn.

Einen besonderen Reiz bieten die von der NSG. »Kraft durch Freude« veranstalteten Ferienfahrten. Einmal ist solch eine Reise ungewöhnlich billig, zumal man die Kosten in kaum fühlbaren Teilbeträgen aufbringen kann. Weiter ist schon die Fahrt insofern angenehm, als man das Eisenbahnabteil mit gleichgesinnten Volksgenossen teilt, die alle die beste Laune und fast immer eine tüchtige Portion Lebensfreude und Humor mitbringen. Da kommt es immer sehr schnell zu einer wirklichen, lustigen Abteilgemeinschaft. Eine Kd F.-Fahrt hat den weiteren, gar nicht hoch genug zu schätzenden Vorzug, daß alle Sorgen um Unterkunft und Verpflegung fortfallen und daß die Reisenden unterwegs keine Übervorteilungen zu fürchten haben.

Fußnoten

1 Verlag von G. Danner, Mühlhausen i. Thür.


Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Das Leiden eines Knaben

Das Leiden eines Knaben

Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon