XV.

Abhandlungen, Vorträge, Gedichte.

[210] Nur der Vollständigkeit wegen, welche die Biographie eines Schriftstellers fordert, möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich mich auch in einer grösseren Zahl von Abhandlungen versucht habe, die in vielen Zeitschriften verstreut sind. Auch wenn ich es wollte, wäre ich nicht im Stande, sie vollständig nachzuweisen. Ich beschränke mich darauf, die hauptsächlichsten Gebiete anzuzeigen, auf welche sie Bezug haben. Sie sind historisch-politisch, namentlich die mittelalterlichen Ständeverhältnisse betreffend, lassen sich über die Bewegung des Handels in der Provinz Preussen aus (auf Grund der Berichte der Handelskammern), verarbeiten statistisches Material (so in einer für den Magistrat zu Königsberg angefertigten Zusammenstellung der Volkszählungsergebnisse), sprechen sich populär über neue Gesetze aus, beleuchten die Stellung der Frauen im Recht und insbesondere im neuen bürgerlichen Gesetzbuch, kritisieren literarische Erzeugnisse (so längere Zeit in den Blättern für literarische Unterhaltung), und sind dramaturgischen Inhalts. In den letzteren vertrete ich die Ansicht, dass wir, veranlasst durch die Meininger, in der Bühnenrealistik viel zu weit gegangen sind und auf Äusserlichkeiten einen Wert legen, der die Dichterwerke selbst beeinträchtigt. Das Bestreben,[211] auf der Bühne alles möglichst wirklich zu geben, verführt zu kostbaren Ausstattungen, die fortwährend überboten werden müssen und bald übersättigen; die Masse von Möbeln, welche regelmässig auf die Bühne geschleppt werden, erfordert zur Abräumung und Wiederaufstellung zu viel Zeit, sodass die Pausen zwischen den Verwandlungen, besonders da, wo nicht ein grosses Arbeiterpersonal gestellt werden kann, oft unleidlich lange dauern. Der Zwischenaktsvorhang zerreisst die Akte und unterbricht die Stimmung. Das ältere Drama, welches mit einfacheren Einrichtungen rechnete, wird dadurch ungeniessbar, oder aus dem Gesichtspunkte neu bearbeitet, dass für möglichste Beseitigung der Verwandlungen zu sorgen ist, wodurch dem Inhalt und der Charakteristik Zwang angethan werden muss. Das Szenarium neuer Stücke wird schon darauf eingerichtet, dass die Handlung in den Akten keine Unterbrechung erfährt, was oft die Folge hat, dass Stoffe, die einen mehrfachen Wechsel der Szene bedingen, lediglich dieses Umstandes wegen ganz ausgeschieden werden. Es scheint mir auch eine krankhafte Übertreibung der Pietät gegen unsere grossen Dramatiker, dass man ihre Stücke, auch wenn sie selbst Bühnenbearbeitungen bewirkten oder zuliessen, vielfach ungekürzt giebt und dadurch die Theaterabende über das Mass der Genussfähigkeit bei den Zuschauern verlängert, ohne den Eindruck zu erhöhen. Doch das nur nebenbei. Eine Reihe von Artikeln für verschiedene Fachschriften beschäftigt sich mit dem Lustspiel und sucht dessen Grundbedingungen festzustellen, auf welche die Kritik, wie ich glaube, nicht genug achtet. Ich freue mich über jeden Versuch, die Komödie, die auf wesentlich anderem Boden steht, auf der deutschen Bühne zur Ehre zu bringen, aber ich verkenne nicht, dass man auch schon früher damit kein Glück gehabt hat und dem Unterhaltungsbedürfnis unseres Publikums in allen Schichten das gemütlich-heitere, stofflich spannende und befriedigend abschliessende Lustspiel näher steht, jedenfalls aber kein Grund vorliegt, es durch[212] Anforderungen, denen es seiner Natur nach nicht genügen kann, kritisch von der Bühne zu verbannen.

Vorträge habe ich nicht nur an meinen Wohnorten Königsberg und Berlin, sondern auch an anderen Orten, so Hamburg, Leipzig und Halle, gehalten, habe mich aber bei Rundreisen nicht beteiligt. Was mir dabei in Hamburg begegnete, mag hier erzählt sein. Ich war von dem dortigen Verein für Kunst und Wissenschaft aufgefordert, am 20. März 1877 zu sprechen, wählte das Thema »Über dramatische Stoffe«, verliess mich diesmal aber zum Glück nicht auf meine Redefertigkeit, sondern arbeitete den Vortrag vollständig aus, um ihn dann zu memorieren und das Manuskript nur im Notfall zu benutzen. Ich fuhr die Nacht durch nach Berlin und in der folgenden Nacht nach Hamburg, wo ich sehr früh morgens im Hotel Kronprinz ein ungeheiztes Zimmer erhielt und mich in das kalte Bett legte. Ich muss mich dabei erkältet haben, denn ich merkte bald schon ein Kratzen in der Kehle und die Anzeichen der Heiserkeit. Gegen Abend schon konnte ich trotz aller dagegen angewandter Medikamente kein Wort mehr vernehmlich sprechen. Im Vorzimmer, in das ich geführt wurde, war nun die Not gross, denn der Saal nebenan füllte sich und man wurde dort schon ungeduldig. Endlich trat ein Herr ein, der sich mir als Professor Eisenhart vorstellte und mich fragte, ob denn da nichts zu thun sei. Ich glaubte, er wäre ein Arzt und antwortete mit Anstrengung krächzend, ich hätte vergeblich schon alle denkbaren Mittel gebraucht. Er lachte und sagte, dass er Philologe sei und etwas anderes gemeint habe. Ob ich denn den Vortrag nicht aufgeschrieben hätte; vielleicht könnte er ihn vorlesen. Ich zog mein Manuskript aus der Tasche und reichte es ihm, zuckte aber zweifelnd die Achseln, denn meine Handschrift ist nicht leicht leserlich und ich hatte nur an den eigenen Gebrauch gedacht. Er blickte hinein, überflog eine halbe Seite und meinte: »Nu – es wird ja gehn. Aber wir müssen eilen«.[213] Und so folgte ich ihm dann, ohne dass er Zeit gehabt hätte, sich weiter zu informieren, in den Saal und setzte mich hinter ihn, nachdem er dem Publikum erklärt hatte, was mir passiert sei, und meine stumme Verbeugung als Bestätigung angesehen war. Und siehe da, er las meinen Vortrag mit einer Geläufigkeit, die mich in Erstaunen setzte. Wenn ihm einmal ein Wort fehlte und besonders ein Name nicht verständlich war, soufflierte ich. So brachten wir uns ganz geschickt durch und erhielten am Schluss ein sehr lebhaftes Bravo. Bei dem dann folgenden Souper konnte ich freilich den beiden schönen und liebenswürdigen Damen, zwischen die ich gesetzt war, nur ein sehr schlechter Gesellschafter sein. –

Ich bin kein Lyriker. Allerdings habe ich in meinen jüngeren Jahren auch Liebes-, Freundschafts-, Frühlings-, Herbst-, Wein- und andere Lieder gedichtet, die vielleicht nicht schlechter waren, als viele ähnliche, die gedruckt und in einem reizend ausgestatteten Bändchen angeboten wurden. Ich habe aber nicht nur der Versuchung widerstanden, sie zu veröffentlichen; ich habe es sogar tapfer über mich gewonnen, das Faszikel, in das sie zusammengefasst waren, zu verbrennen. Und es thut mir noch heute nicht leid. Ich sah eben ganz richtig ein, dass ich zwar Verse schreiben könne, die mir keine Schande machen würden, dass ich deshalb aber kein Lyriker sei, weil es mir an der lyrischen Individualität fehle. Das beste, was ich da schaffen konnte, stand doch gegen das bessere, was aus derselben Stimmung heraus schon einmal geschrieben war, allzu weit ab, und ich fühlte, dass ich auf diesem Gebiet überhaupt nichts Neues zu sagen habe. Diese Einsicht hat mich natürlich nicht gehindert, gelegentlich einen Balladenstoff zu formen, Prologe, Festgedichte, ernst und heiter, zu verfassen und Sinnsprüche anzusammeln.

Quelle:
Wichert, Ernst: Richter und Dichter. Ein Lebensausweis, Berlin und Leipzig 1899, S. 210-214.
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