Kurzes Eheglück

[201] Das Jahr 1882 brachte mir auch persönlich eine in mein Leben aufs tiefste und dauernd einschneidende Veränderung: am 10. Oktober vermählte ich mich mit meiner Kusine Marie Rimpau. Meine Frau, die Tochter des Bruders meiner Mutter Wilhelm Rimpau und seiner Gattin Sophie, der Schwester meines Vaters, war fast gleichaltrig mit mir und von Kindheit an meine beste Freundin gewesen. Jahrein, jahraus kamen wir häufig und meist wochenlang zusammen; früher namentlich dadurch, daß unsere Familie in den Ferien, besonders während der Pfingsttage, in der Domäne Schlanstedt, seit 1856 auf dem Rittergut Langenstein bei Rimpaus eine gastliche Aufnahme fand. Seit meiner Anstellung in Berlin hatte ich meine Kusine auch dort öfters wiedergesehen, da mein Onkel zu den Jahressitzungen des Landesökonomiekollegiums in die Hauptstadt kam. Seit einigen Jahren teilte ich mit Rimpaus sogar eine Wohnung in den Zelten 16, die wir scherzweise als Aktienwohnung bezeichneten.

Wohl durch mich angeregt, hatte meine Kusine für alte Kunst mehr und mehr Interesse bekommen. Auf einer[201] Reise nach Italien diente ich ihr als Führer in Florenz und so oft sie nach Berlin kam, hielt sie sich am liebsten in unseren Sammlungen auf. Sie war mir in Charakter und Erscheinung fast durchweg entgegengesetzt. Stattlich an Gestalt und stark, ursprünglich kerngesund, war sie von impulsiver Lebendigkeit, Natürlichkeit und Frische, voll Offenheit und herzlichem Entgegenkommen, ohne jedes Arg und doch zugleich voll sprudelnden, gutmütigen Humors. Sie lebte und dachte nur für andere, ihre Neffen und Nichten hingen zum Teil mehr an ihr als an ihren Eltern. Lebenslustig und gegenüber jeder ihr sympathischen Natur sehr entgegenkommend, hatte sie bei dem großen Verkehr im elterlichen Hause, mit den reichen und vornehmen Volontären, die sich zu der Lehre unter ihrem Vater drängten, mit den Gutsbesitzern der Nachbarschaft, den Offizieren der Halberstädter Kürassiere und den Mitgliedern der vielen befreundeten Familien in Berlin und anderswo, zahlreiche Verehrer und Freier gefunden. Aber sie hatte sich nie zu einer auch noch so glänzenden »Partie« entschließen können. Sobald einer ihrer guten Freunde mit einem Antrag an sie herantrat, wurde sie zurückhaltend und ablehnend, weil sie sich zu häßlich fand und glaubte, daß man sie nur um des Geldes und der Position ihres Vaters willen begehre. Sie fühlte sich eben zur alten Jungfer bestimmt. Als ihre Schwestern längst verheiratet waren und heranwachsende Kinder hatten, half sie aus, wo es zu tun gab, und wie die Frau des älte sten Brüdens jung starb, betrachtete sie sich als zweite Mutter der verwaisten Nichten.

In den Jahren, die ich fern auf der Universität und auf Reisen verbrachte, wurden die herzlichen Beziehungen zu mir etwas zurückgedrängt, aber sie traten rasch in den Vordergrund, nachdem ich in Berlin angestellt war und wir wieder oft und lange beisammen sein konnten. Niemand sah in diesen Beziehungen etwas – waren wir doch so nahe verwandt und fast wie Geschwister aufgewachsen. Aber mit den Jahren nahm dieses gegenseitige Interesse immer mehr zu, und die Zuneigung[202] wurde stärker als eine geschwisterliche, ohne daß ich es ahnte auch bei meiner Kusine. Die Mutter, der sie von allen Kindern am nächsten stand, und die wohl nicht ohne Schuld daran war, daß sie sich früher nie zu einer Heirat hatte entschließen können, wußte, wie sehr ihre Tochter darunter litt. Als ich im Herbst 1882 den Urlaub wieder in Langenstein verbrachte, ließ sie mich daher wissen, wie es um Maries Empfindungen bestellt war. Das führte noch am gleichen Tage zu unserer Verlobung. Schon einen Monat später waren wir verheiratet.

Unsere Heirat wurde von den Verwandten nicht gern gesehen, am wenigsten von meinem Schwiegervater, der sich für seine Tochter einen vornehmeren und angeseheneren Gatten gewünscht hatte. Aber erst ein unglückliches Ereignis, das gerade in die Wochen nach unserer Verlobung fiel, ein schwerer Schlaganfall meines Schwiegervaters, brachte einen unseligen Zwiespalt in unsere Familie. Der alte Rimpau ging so ganz in seinem Beruf und seiner Landwirtschaft auf, daß er die Erziehung seiner Kinder ausschließlich seiner Frau überlassen hatte und daher auch ihren Herzen nicht nahestand. Trotzdem betrachtete meine Schwiegermutter, die selbst den letzten Anstoß zu unserer Heirat gegeben hatte, jenen unglücklichen Schlaganfall, von dessen Wirkungen sich mein Schwiegervater bis zu seinem Tode (Anfang 1892) nur sehr langsam erholte, als die Folge der Aufregung über unsere Verlobung. In ihrer unbeugsamen, harten Weise ließ sie dies die Tochter fühlen; ja, je mehr sich das Befinden des Vaters besserte, um so stärker. Sie hat sich nie bereden lassen, uns in Berlin aufzusuchen, ja, sie hat die Tochter nur noch einmal bei sich gesehen, hat sie in ihren Briefen stets mit Vorwürfen überhäuft und die schwere Pflege des Mannes, die sie sich wie eine Geißel auferlegte, ihr stets zur Schuld gegeben. In Wahrheit lag der Grund dieser grausamen Behandlung in gekränkter Liebe, in dem Gefühl, daß die Tochter, die ihrem Herzen am nächsten stand, von ihr gegangen war und daß sie einem anderen angehörte.[203]

Sie war überhaupt eine in jeder Beziehung höchst eigenartige Frau. Ihre Lebenskraft und Energie ver langte nach unermüdlicher Tätigkeit, die Erziehung der Kinder, die Sorge für das Haus im weitesten Sinne war ganz ihre Sache. Auch den Mann hat sie durch ihren Charakter erst zu dem erzogen, was er später war, denn an seinem großen Erfolge in der Landwirtschaft gebührte ihrem Fleiß kein geringer Anteil, selbst an dem wissenschaftlichen Erfolge! Ist es doch ihrer Frische und ihrem schlagenden, oft derben Witz zu danken, daß ihr gastfreies Haus zum Mittelpunkt der besten, namentlich landwirtschaftlichen Kreise aus Deutschland und aus Österreich wurde. Als sich dann die Kinder durch Begründung eines eigenen Heims selbständig machten und dadurch der Kreis ihrer rastlosen Tätigkeit eingeschränkt wurde, entwickelte sich ihr Charakter immer ungünstiger und artete immer mehr in tyrannisches Wesen aus. Unter diesem Joch hatten vor allem ihre Kinder zu leiden, am meisten meine arme Frau. Selbst als sie erfuhr, daß sich bei Marie infolge der unsinnigen Behandlung eines alten Gallenleidens durch ihren Halberstädter Arzt ein Unterleibsleiden ausgebildet hatte, nahm sie kaum Notiz davon. Wie ihr Zustand Anfang 1885 durch die Geburt eines Kindes im höchsten Grade gefährlich wurde, war sie zu einem Besuche nicht zu bewegen. Selbst bei ihrem Tode blieb sie fern! Welch schwere Kämpfe sie aber durchzumachen hatte, bekundete die bei ihrem Wesen ganz unge wöhnlich zärtliche Liebe, die sie meiner kleinen Tochter bezeugte. Monatelang hatte sie das Kind alljährlich um sich, und als ihr Mann, den sie durch ihre Pflege noch bis zu seinem 78. Jahre erhalten hatte, im Januar 1892 starb, zog sie gleich darauf nach Berlin. Hier erkrankte sie plötzlich und begann zu siechen, die innere Verbitterung und die mangelnde Rücksichtnahme auf ihren Körper rächten sich selbst an dieser Hünennatur.

Seit dem Tode meiner Frau hatte ich mich so gut wie ganz von meiner Schwiegermutter ferngehalten. Als sie dann fühlte, daß sie schwer krank war, bat sie mich zu sich und sagte, sie[204] habe nur noch einen Wunsch auf Erden, den ich ihr erfüllen könne, obgleich sie darauf keinen Anspruch habe: ich möge ihr doch erlauben, in meinem Hause zu sterben. Ich ließ sie gleich zu mir bringen. In dem Hause, das ich für ihre Tochter erbaut hatte, lag sie noch ein Vierteljahr krank darnieder, von einer meiner Nichten gepflegt und mit meinem Kinde als täglicher Umgebung. Am 26. Juni 1892, während meiner Abwesenheit in London, war sie plötzlich sanft entschlafen. Nicht ein Wort über ihre Tochter oder über alles, was vorgefallen war, kam in der ganzen Zeit über ihre Lippen.[205]


Quelle:
Bode, Wilhelm von: Mein Leben. 2 Bde, 2. Band. Berlin 1930.
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