Berlin, 10. November 1918
Der Wendepunkt

[140] Gestern, am Sonnabend ist die Revolution ausgebrochen. Im ganzen war sie sehr ruhig und bis auf einzelne Unglücksfälle unblutig. Rote Fahnen wehen auf allen Kaiserlichen Gebäuden. Vom Schloßfenster hat Liebknecht eine Rede gehalten. Jedenfalls stehen wir vor einer neuen Weltlage. Wie es unter Deutschen üblich ist, wird die Uneinigkeit nicht ausbleiben. Vielleicht kommt uns eine bessere und freiere Zeit. Nach 100 Jahren bestimmt, aber solange wir leben, wird es wohl schwerlich möglich sein, die Unruhen zu überbrücken. So ist der Hohenzollernstaat mit Stumpf und Stiel einstweilen ausgerottet. Ich fühle mich als Preuße und kaiserlicher Deutscher. Es wird klar, daß sich alles Schlechte in dieser Welt bitter rächt, und wenn der Regent dünkelhaft und einfältig verfährt, so wird der Staat es stets zu büßen haben. Die Dummheiten des Kaisers:

1. Sic-volo, sic jubeo

2. Regis voluntas – suprema lex

3. Schießt auf eure Eltern und Brüder für euren Kaiser

4. Handlanger Wilhelms nennt er Bismarck

5. Vaterlandslose Gesellen die Sozialdemokraten

6. Ernennung Wilhelms I. zu Wilhelm dem Großen

7. Die verlogenen Depeschen während des Burenkrieges an Ohm Krüger

8. Die aufgedeckten Depeschen an England.

So wimmelt es voll der reichsten Dummheiten, und das Schicksal zeigt, wie Undankbarkeit gegen Bismarck sich bitter rächt.[140]

Der kleinste Bürger hat durch die Eigenwilligkeit Wilhelms II. zu leiden.

Z.B. wir Maler: er befiehlt wie gemalt werden soll! Die Denkmäler der Siegesallee, eine Schmach deutscher Kunst, sind ganz sein Werk, nebst der Rede darüber an »seine Bildhauer.«

Und dennoch würde ich selbst für diesen Kaiser stimmen, denn mir schwant, als wenn wir den trübsten Zeiten immer mehr entgegen eilen. Malen und arbeiten will ich, wo kann man das noch? Nach unserm Tode wird die Zukunft geklärt. Das Ende des Mittelalters innerhalb der Reformation. Das Ende des Preußentums. Der Anfang des internationalen Europas und des Kontinents!


11. November 1918

Gestern, am Sonntag und vorgestern waren die Tage der Revolution. Keine Toten waren zu beklagen. Schönes Herbstwetter blinkte auf den Straßen und im Tiergarten. Es schien eine neue Sonne emporzutauchen. Heute kommt bereits der Katzenjammer. Der Kaiser ist nach Holland gegangen. Man munkelt, der Kronprinz und Hindenburg sind mit ihm. Dabei sind die Bedingungen des Waffenstillstandes, die Foch so hoch und schwer geschraubt, wie nur irgend möglich; dazu kommt das trübe und finstere Novemberwetter. Es scheinen sich Dinge vorzubereiten, die trostlos werden. Wie anders erscheinen uns die Tage des Friedens vor fünf Jahren. Lichtblicke sind freilich da: Die Deutsch-Österreicher wollen sich zu uns schlagen. Die Revolution soll nach Frankreich und England übergreifen. Aber dieses scheint mir ein Wunsch unseres Gedankens; leider werden sich diese Märchen auflösen wie Seifenblasen. Uns ging es zu gut, wir wußten gar nicht mehr, wie es einem schlecht[141] gehen kann. Wäre ich gläubig, könnte ich mich trösten, daß wir zuviel gesündigt haben.

Ob die Männer am Ruder stark genug sind? Der Himmel helfe uns vor Anarchie, Mord und Totschlag. Und dann ist die Aussicht, daß die Soldaten aus dem Kriege nach der Heimat kommen. Es wäre zu traurig, wenn es da erst recht los ginge.


13. November 1918

Die Lichtblicke tauchen doch vielleicht vereinzelt auf. Trotz des Kaisers ist Hindenburg auf seinem Posten geblieben. Die harten Waffenstillstandsbedingungen sind unmöglich. Vielleicht, daß doch die neue Zeit mit geringeren Wehen eintritt.

Die Kunst wird zur Freiheit gelangen. Möglich, daß doch das Blut der Gefallenen nicht vergeblich geflossen ist! – – –

Das dicke Ende kommt noch nach, fürchte ich.


Sonnabend, 16. November 1918

Die sozialistische Demokratie macht sich breit. Sie ist der Herr im früheren militärischen Deutschland. Die Soldaten laufen ohne Kokarde in den Straßen Berlins wie Vagabunden herum.

Die Streberei macht sich ebenso breit, und jeder will seine Hand im Spiel haben, um mitregieren zu können. Die Zeit ist eben eine andere. Die Kunst, welche mir eine große nationale Sache war, wird international. Es bleibt nichts von den früheren Anschauungen. Ich glaube aber doch, daß das Gute und das Kräftige bleiben wird, und der tüchtige Künstler wird unter der Menge dominieren. Zweitausend Jahre hat die Welt so existiert, warum soll sie nach dem bißchen Krieg plötzlich anders werden.


21. November 1918

[142] Eine Woche war die Revolution alt und es ging ruhig zu. Jetzt ist bald das dicke Ende da. Die Feinde machen mit den Waffenstillstandsbedingungen Schwierigkeiten. Unmöglich zu erfüllen. Rußland wird schwierig. Die Engländer und Amerikaner wußten, warum das Hohenzollernhaus mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden sollte.

Deutschland ist schwach bis ins innerste Mark.


24. November 1918

Ein größerer Rheinbund droht jetzt, als es je zu Napoleons Zeiten gewesen ist. Hin! Hin! Preußen ohne Marquis de Brandenbourg.

Was soll werden? nichts!

Keine Aussicht auf Erwerb, garnichts.

Bayern, Württemberg, Groß-Thüringen?

Bürgerkrieg?


7. Dezember 1918

Zwei Wochen sind ruhig vergangen; man wartet ab, was die Zukunft bringen wird. Einstweilen sind die Soldaten ruhig und bewunderungswürdig zurückgekehrt nach Deutschland.

Das Militär ist auf ewig vernichtet. Immerhin ein trauriges Faktum für eine Institution, die in der ganzen Welt bewundert wurde und scheinbar für die Ewigkeit da stand. Ein Trost, daß von heute so manches andere, was unlauter ist, auch bald in den Orkus hinabsteigt.

Einstweilen muß man mit der neuen Welt mitgehen. Unsinn, dem alten nachzuhängen und das nur für das beste zu halten. Uns fehlt ein Moses, ein Retter für Deutschland. Aber gegen die raffinierte Gerissenheit der Feinde ist es kaum zu hoffen, daß wir aus Dummheit und Engherzigkeit[143] erzeugt, jemals den Feinden gewachsen sein können in Diplomatie und Verhandlungsfähigkeit. Dazu kommt der alberne Blödsinn und Kampf zwischen den einzelnen Parteien.

So bleibt uns keine Hoffnung als, daß ein Wunder vom Himmel geschieht und Deutschland rettet.

Also nicht möglich.


8. Dezember 1918

Demonstrationsaufzüge nach dem englischen und amerikanischen Muster wachsen zu tausenden Menschen aus Berlin. Man schießt und es gibt einige Tote. Ein Napoleon findet sich immer noch nicht. Die Zeitungen schwindeln das Blaue vom Himmel. Eine merkwürdige Menschenklasse – »die Professoren« – schreiben mit ihren Namen, was sie alles erlebt haben wollen mit maßgebenden Persönlichkeiten. So will ein Professor dem Lichnowsky unterbreitet haben, welche Gefahren uns von England drohen.

Einer will sogar eine Unterredung mit dem Kaiser gehabt haben; will die Enthüllungen Lerchenfelds erfahren haben, daß das auswärtige Amt den Krieg vom Zaune gebrochen habe. Es stellt sich heraus, daß diese Berichte ein Professor gefälscht haben soll. So ist alles Schwindel, und vor allem hat das deutsche Volk darunter am meisten zu leiden. Das deutsche Volk ist noch lange nicht im Untergang. Ein Volk, welches fünf Jahre allein gegen die Welt mit Sieg und Abfall seiner Verbündeten ausgehalten hat, ist noch lange nicht am Verfall. Daß die Geschichte später gar parteiisch sein wird und die Verdienste schmälert, könnte nicht ganz unmöglich sein.


9. Dezember 1918

Der Staatsbankerott steht vor der Tür![144]


15. Dezember 1918


Trotzdem der Militarimus vollständig geknickt ist, soll man dennoch an eine Erhebung denken, Haß und Rache?

Deutschland ist jetzt ein Schweinetrog. Jeder steckt seinen Rüssel hinein, um auf seine Kosten zu kommen. Die Sozialisten wissen nicht aus noch ein.

Ein Krach kommt darüber.

Es muß doch einst unter den vielen Millionen »einen Mann« geben.

Unsere Unterdrückung durch unsere Feinde werden wir nicht ertragen können. Der Friede von Brest-Litowsk ist nichts dagegen.

Quelle:
Corinth, Lovis: Selbstbiographie. Leipzig: Hirzel, 1926., S. 140-145.
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