Mein Bruder verändert sich

[171] Die Bernburger Bataillone waren ausgerückt, und den zurückgelassenen Trainknecht tröstete die vorgerückte Jahreszeit. Es fror und schneite greulich, und jedes Kind konnte begreifen, daß es zu Hause besser war als auf dem Marsche. Ich verschmerzte, was nicht zu ändern stand, ging in die Schule und ergab mich nebenbei den mannigfaltigen kleinen Freuden, die auf dem Eise und im Schnee blühen. Wir schlittschuhten, schneeballten, und ganz besonders glitten wir fleißig und in großer Gesellschaft auf Handschlitten die Berge hinab.

Letzteres Vergnügen möchte ich noch heute für die Vollendung aller Knabenfreuden halten. Die Füße wie Pistolenhalfter steif nach vorn gestreckt, sitzt man in zurückgelegter Stellung rittlings auf dem kleinen, aus drei Brettchen zusammengeschlagenen Schlitten, greift mit den Fäusten in die Zügel, und durch Anstreichen der Schneebahn mit dem Absatz sich frei dirigierend, schießt man abwärts wie ein Geier. So jagen eine Menge kleiner Schlitten schreiend und lärmend hintereinander her, bemüht, sich auszuweichen, zu haschen, anzurennen oder umzuwerfen, und hierin liegt für die wilde Unruhe der Knabenseele unendliche Befriedigung.

Dies würde auch mein Bruder nicht bestritten haben. Er war ein echter Junge und kannte die Sache aus Erfahrung; auch war er kein Spielverderber und gönnte anderen die Freude von ganzem Herzen – für seine Person aber beteiligte er sich seit kurzem an dergleichen Wildrungen nur mäßig, isolierte sich und ging seine eigenen Wege. Die seine Verhältnisse nicht kannten, mochten denken, er sei duselig oder stolz geworden. Die Sache hing aber anders zusammen.

Barduas gerade gegenüber lag eins der schmucksten Häuser der Stadt, das von einer einzelnstehenden Dame bewohnt ward. Diese, eine Mamsell[171] Schäfer, schien kränklichkeitshalber auf ihr Zimmer reduziert und ging, soviel ich mich erinnere, niemals aus. Sie amüsierte sich aber bisweilen, unseren Spielen aus ihrem Fenster zuzusehen, und wurde von uns hochgeschätzt, weil sie stets zur gelegensten Zeit, d.h. immer, wenn sie uns gewahrte, Brezeln und sonstige Leckerbissen zur Hand hatte, mit denen sie nicht kargte. Ein besonderes Interesse aber zeigte sie für meinen Bruder, entweder weil er ebenso gesund und strotzend aussah, als sie selber blaß und mager war, oder auch, weil sie ihn überhaupt am meisten sah; denn solange sie sich am Fenster zeigte, pflegte er sich, seiner materiellen Gesinnung halber, nicht allzu weit zu entfernen. Sie blickte ihn dann wohl huldvoll an, öffnete das Fenster und steckte ihm der Gaben allerbeste zu, bis sie den kleinen Schmarotzer so weit gekirrt hatte, daß er sich in einem unbewachten Augenblicke sogar bewegen ließ, zu ihr ins Haus zu treten. Da hatte sie ihm denn allerlei vorgespiegelt und damit geendet, ihm ihre Hand anzubieten.

Ob mein Bruder auf diese Verbindung aus eigentlicher Neigung oder eigentlich aus Eigennutz einging, weiß ich nicht zu sagen; allerdings aber ging er darauf ein und hielt sich allen Ernstes für gebunden. Die Vermählung wurde mit Schokolade und Biskuit vollzogen, beide Eheleute nannten sich beim Vornamen und du, und mein Bruder bezog in dem schönen Hause seiner Gemahlin ein eignes, reichlich mit Spielsachen ausgestattetes Kabinett, wo er fortan einen großen Teil seiner freien Zeit verbrachte. Ich aber nannte ihn »Herr Schäfer«, was er bei den großen ihm zugefallenen Vorteilen gern mit in Kauf nahm.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 171-172.
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