Das Krankenzimmer

[58] Die Trennung von der Mutter war uns durch Besuche, die wir bisweilen an der Hand der Pflegerinnen machen durften, erleichtert worden. Dennoch zogen wir, als sie genesen, mit Befriedigung wieder in unser altes Nest ein. Auch kam der Vater nun zurück, und unser Leben, das so lange aus dem Geleis gewichen, hätte sich wieder regeln mögen, wenn nicht neue Störung eingetreten wäre.

In Dresden gingen die Spitzblattern um, und wir drei Geschwister erkrankten gleichzeitig daran. Das war nun keine sonderliche Freude, doch hatten gerade wir Patienten die wenigste Unbequemlichkeit davon. Es ging uns in der Tat nichts ab; unsere kleinen Betten, gegen das Herausfallen mit Geländer versehen, standen gesellig nebeneinander in einem freundlichen, mit unterhaltenden Bildern versehenen Zimmer. Die pflegende Mutter war immer bei uns, der Vater ab und zu, und während das Schwesterchen mit seinen eigenen Händen spielte oder an der von Weimar mitgebrachten Kinderklapper kaute, besahen wir andern die vom Vater mit großer Munifizenz gespendeten Kupferwerke, schnitten Papierfiguren aus und kneteten allerlei Blumen und Gestalten aus buntem Wachs, mit denen wir die Ränder unserer Bettstellen beklebten. Unter solchen Umständen läßt sich's schon krank sein, und ich hätte auch heute nichts dagegen, wenn Spitzblattern das einzige Übel wären, was den Menschenleib betreffen könnte.

Die angenehmste Erinnerung aus jener Krankheitsperiode knüpft sich an die Abendstunden, wenn die Rouleaus herabgelassen, die Lichter angezündet waren und die Schwester schlief. Dann fand die Mutter Ruhe, sich mit ihrem Strickstrumpf zwischen uns zu setzen, und wir plauderten von allem, was uns einfiel. Am liebsten war's uns, wenn die Mutter was erzählte, namentlich von ihrer fernen Heimat, die wir auch als[58] die unsrige betrachteten, von jenem abgelegenen Küstenlande mit seinen dunkeln Wäldern und schimmernden Wiesenflächen, mit seinen frischen Quellen und ewigen Morästen, durchirrt von Elentieren, Bären, Wölfen, wo auch die Großeltern hausten und zahlreiche liebe Verwandte unser dachten, und wohin wir selbst auch bald zurück sollten.

Die wilden Bestien waren jedoch das beste, und namentlich wußte meine Mutter von Wölfen sehr effektvoll zu berichten. Ob sie auch Kinder fräßen, fragten wir, und es erfolgte nachstehende wahre oder doch aus wahren Umständen zusammengesetzte Geschichte, denn mit Märchen ließ die Erzählerin sich nie ein.

Es war einmal ein kleiner Junge, der war vier Jahre alt und hieß Inrik. Seine Eltern waren Bauersleute und wohnten in einem abgelegenen Walddorf. Der Inrik war aber nicht so angezogen wie die Lotzdorfer Bauernjungen; er hatte nichts am Leibe als ein kurzes Hemd von grober Leinwand.

Nun traf sich's, daß die Mutter Piroggen gebacken hatte – das sind kleine runde oder viereckige Kuchen von Brotteig, gefüllt mit Sauerkraut oder auch mit Möhrenbrei, wie sie die Leute dort zu Lande lieben. Von diesen Piroggen band die Mutter welche in ein Tuch, gab es dem kleinen Inrik in die Hand und sagte: Geh, bring's dem Vater auf das Feld; aber eile dich, damit er's warm kriegt!

Der Kleine faßte den Knoten des Tuches fest und sprang wohlgemut in seinem Hemdchen davon. Er mußte aber durch einen großen Wald laufen, wo viele Erdbeeren standen; doch weil ihm die Mutter gesagt hatte, daß er sich eilen sollte, so rührte er keine an und kam bald zu seinem Vater. Der ruhte im Schatten am Rande des Waldes, an den sein Feld stieß. Er ruhte von der Arbeit und wollte eben sein Vesperbrot, die mitgebrachte saure Milch, verzehren, als Inrik bei ihm anlangte. Da freute sich der Vater über den Kleinen und über die Piroggen, ließ ihn neben sich niedersetzen und gab ihm auch davon.

Das war eine hübsche Geschichte, sagte mein Bruder, und er wollte auch Perücken essen. Aber die Mutter bedeutete ihm, die Geschichte sei ja noch nicht zu Ende, und erzählte weiter.

Als nun die Feldarbeit wieder anging, machte sich der Inrik auf den Rückweg, und da er keine Eile hatte, pflückte er von den schönen roten Erdbeeren, die am Wege standen. Die schmeckten ihm so süß und immer süßer, je mehr er davon aß, daß er endlich an nichts anderes dachte als an die Erdbeeren und, je nachdem sie wuchsen, immer tiefer in den Wald lief. Da er nun satt war, pflückte er auch noch ein Sträußchen für die Mutter und wollte dann zurückgehen auf den Weg. Aber er hatte die Richtung verfehlt und geriet in dichtes Gestrüpp, aus dem er sich[59] nicht wieder herausfinden konnte. Da wurde er ängstlich und irrte mit seinem Erdbeersträußchen kreuz und quer und stundenlang umher, bis seine kleinen nackten Füßchen von Dornen zerrissen und er so müde war, daß er nicht weiter konnte. So setzte er sich denn weinend unter eine alte Fichte, und traurig und erschöpft, wie er war, sangen ihn die Drosseln bald in Schlaf.

Er hatte sich nur etwas ausruhen wollen und dann weitergehen; aber er schlief so fest und lange, daß, als er endlich erwachte, der Nachtwind bereits die Wipfel der Birken wiegte. Da fing der arme Junge bitterlich zu weinen an und rief laut nach seiner Mutter, die ihn freilich nicht hören konnte. Aber ein Paar schärfere Ohren hörten ihn.

Es war ein Morast in der Nähe, in dessen Mitte eine alte Wölfin auf dem Lager lag. Die hörte den Hilferuf des kleinen Inrik, streifte ihre Jungen von sich ab, erhob sich und zog leichten Schrittes mit hohlem Leibe über den bruchigen Boden hin. Plötzlich fühlte der jammernde Knabe sich von einer kräftigen Tatze zu Boden gestreckt und war fast des Todes, als er die glühenden Augen des Raubtieres dicht an den seinigen erblickte. Die Wölfin beschnoperte den Knaben, der in seiner Angst still wie ein Toter dalag. Dann faßte sie ihn mit scharfen Zähnen bei seinem Hemdchen und trat den Rückzug mit ihm an.

Eilig ging's nun fort über Stock und Block, durch dick und dünn. Halb trug die Wölfin den geraubten Knaben, halb trieb sie ihn durch Peitschen mit ihrem dicken Schwanze zum Selberlaufen an. Endlich legte sie ihn zwischen drei kleinen Wölfen mit breiten Köpfen und kurzen Schwänzen auf ihr Lager nieder und leckte seine Füße, während die Kleinen mit ausgelassener Freude kreuz und quer über ihn wegkrochen. Wahrscheinlich sollten sie noch etwas mit ihm spielen, ehe er gefressen würde, aber Inrik hatte dazu wenig Lust, kaum wußte er, was mit ihm vorging.

Da knackte es in den dürren Ästen, die auf dem Morast zerstreut umherlagen, die Wölfin spitzte die Ohren, fuhr auf und schoß einem großen, schwarzen Hund entgegen. Unter Geheul und Bellen entspann sich nun ein fürchterlicher Kampf; Hund und Wolf hatten sich gegenseitig gepackt, rissen sich nieder und wälzten sich blutend im Moraste, daß das Gewässer hoch aufspritzte. Indem wurden Männerstimmen laut, und Bauern mit Äxten eilten herbei.

Inriks Vater war, geängstet über das Verschwinden seines Kindes, mit Nachbarn und Hunden ausgezogen und hatte schon seit Stunden den Wald durchsucht. Jetzt allen übrigen voran, schlug er den Wolf tot.

Der muß hier sein Nest haben, sagten die Männer und begaben sich ans[60] Suchen. Da fand man das halbnackte Kind mit seinem Erdbeersträußchen in der Hand wie tot unter den kleinen Wölfen, die ihre dicken Köpfe ängstlich ineinander geschoben hatten. Der Vater riß sein Söhnchen an sich, schloß ihn ans Herz und fing laut an zu jammern, denn er dachte, daß er tot wäre. Aber Inrik schlug bald die Augen auf, klammerte seine Ärmchen um den Hals des Vaters und sagte weiter nichts als: »Ein großer Hund hat Inrik gebissen!« Die jungen Wölfe aber verkaufte man dem Gutsherrn, der seine Freude daran hatte und sie als Kettenhunde großzog.

Bei der zweiten Hälfte dieser Erzählung war auch mein Vater eingetreten und hatte sich, die Hände auf dem Rücken, vor dem Kachelofen aufgepflanzt. Jetzt sagte er, er könne vor dem Inrik keinen rechten Respekt haben. Ein Junge, und ganze vier Jahre alt, sollte sich was schämen! Wäre er keck aufgesprungen und hätte den Wolf mit einem fürchterlichen Blicke angesehen, so würde der sich bald aus dem Staube gemacht haben.

Die Mutter bezweifelte, daß der Wolf sich daran gekehrt haben würde; aber der Vater blieb bei seiner Meinung. »Der kleinste Mensch«, sagte er, »kann Wunder tun, wenn er nur den Mut dazu hat. Hätte der Wolf ihn aber doch gefressen, so wäre er wenigstens mit Ehren umgekommen.«

Mit dieser Spitzblattergeschichte schließt die Periode der ersten ungeschulten Maitage meiner Jugend ab, und das Kennzeichen des Knabenalters, die Plage regelmäßigen Unterrichtes in dem, was niemand zu wissen begehrt, in den abstrakten Formen der ersten Elemente, ließ mich fortan einen leisen Vorgeschmack vom Ernst des Lebens gewinnen.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 58-61.
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