Der Dom

[278] Unterdessen mochte unsere gütige Wirtin sich meiner doch erinnert haben, denn kaum hatte ich die obige Geschichte beendet, als sie zu mir trat und mir einen Schlüssel überreichte. Wenn es mir Vergnügen mache, sagte sie, die Kirche zu besehen, so ginge der Weg durch jene Türe und immer weiter; die letzte Türe öffne der Schlüssel.

Das hieß meinen Geschmack ins Schwarze treffen. Ohne Verzug machte ich mich auf den Weg, und daß ich so allein war, war das beste, denn bei Besuchen, die man der Vorzeit abstattet, braucht man keine Zeugen. Ich konnte fühlen, denken und träumen, was ich wollte, erinnere mich auch, daß ich dachte, wie die alten Regenten des Domstiftes ohne Zweifel mit demselben Schlüssel denselben Weg gewandert seien, wie ehrwürdig sie etwa dabei ausgesehen haben könnten mit ihren Krummstäben,[278] hohen Mützen und goldenen Gewändern, und wie schade es sei, daß sie sich jetzt in bloße Regierungspräsidenten verwandelt hätten.

Unter dergleichen elegischen Betrachtungen durchwanderte ich eine Reihe von Gemächern und Gängen, bis ich an die verschlossene Türe gelangte, die richtig meinem Schlüssel wich und mir den Eintritt in einen kleinen, weißgekalkten Durchgang voll sonderbarer Schildereien gestattete. Das war denn etwas ganz Verwunderliches! In alten, wurmstichigen Rahmen hing hier Bild an Bild, neben-, unter- und übereinander, daß die Wände davon bedeckt waren. Es waren lauter Stilleben; nicht aber, was die Maler so zu nennen pflegen, gerupftes Geflügel, tote Hasen und dergleichen – nein, es waren vielmehr die toten Herren Bischöfe des Stiftes selbst. In Lebensgröße, mit eingesunkenen Augen und hippokratischen Gesichtern, an denen die Verwesung bereits genascht zu haben schien, waren sie da in ihren Särgen liegend abgebildet, einer beim andern. Ich hatte keine Liebhaberei für Leichen, und dennoch war ich hier wie festgebannt. Ich las die Namen, besah die Wappen und empfand ein tiefes Mitleid mit diesen abgefallenen welken Blättern und mit mir selber, der ich ja auch dereinst ein solches werden sollte.

Mühsam riß ich mich los und gelangte mittelst einer kleinen gewundenen Steintreppe hinab in eine altersgraue Sakristei, wo mir sogleich ein Gegenstand ins Auge fiel, der mich versteinerte. Dem Treppchen gegenüber war mit Eisenklammern ein hohes Kreuz an die Wand geheftet, und daran hing unter Staub und Spinnweben ein lebensgroßer, aus Holz geschnittener Leichnam, angestrichen mit der Farblosigkeit des Todes, voll Blut und Schwielen. Wirkliche Dornen umflochten das natürliche Haar, das über den vorgebeugten Kopf herabfiel und das Gesicht bedeckte. Der tote Christus schien leibhaftig dazuhängen – aber dergleichen Leibhaftigkeit erweckt mehr Schauder als Erbauung. Ich mußte des Küsters denken, der hier schlafen sollte und dessen Bett vielleicht gerade unter jenem Bilde stand. Da war's natürlich, daß nichts übrig bleiben konnte als ein Häufchen Asche.

Wie aus einem Grabe trat ich gedankenvoll und wohlvorbereitet aus der Sakristei hinaus in die Hallen des altehrwürdigen Domes. Ich durchschritt den weiten, geheimnisvollen Bau nach allen Richtungen, durchforschte die Seitenschiffe und Kapellen, faltete meine Hände am Hochaltare, besah die Bilder, Schnitzwerke, Fahnen und Wappen an den Pfeilern und wich, nachdem ich mich etwa eine Stunde umhergetrieben, erschrocken zurück vor einem zweiten lebensgroßen Kruzifix, das mir aus einer dunkeln Ecke unerwartet entgegenstarrte.

Der sinkende Abend wob bereits seine Schleier um die Gewölbe, und es[279] begann mir etwas unheimlich zu werden; doch tritt ein Knabe zur Abwechslung recht gern einmal heraus aus der gewohnten Lebenszuversicht, und ich genoß das Gruseln wie eine Kalteschale zur Sommerszeit, besonders vor einem gewissen hohen, reichverzierten Eisengitter, hinter welchem schwarze Nacht war. Als mein Auge sich jedoch gewöhnte, unterschied ich die Umrisse mehrerer hoch aufgebauter Laden, wahrscheinlich die Särge der Bischöfe, die vor alters hier in Merseburg ihr Wesen hatten. Da lagen sie nun weggepackt wie alte abgelegte Mäntel in engen Koffern, vielleicht – wie denn manche Grüfte wohl konservieren – noch mit denselben Gesichtern, die ich eben gesehen. Über das alles hatte ich meine Gedanken, und die Totenpredigt der Chronik fiel mir auch wieder ein. Dunkel genug war's dazu schon, wie es mir schien, und so gut wie vor vierhundert Jahren konnte der gespenstische Prädikant auch heute seine Knochenhände schwingen, wenn er wollte. Ein kalter Grabeshauch ging durch die Eisenstäbe, und ein Geräusch ließ sich vernehmen wie das Knarren eines Kastendeckels, den man mit Vorsicht öffnet. Rüsteten sie sich vielleicht da drinnen schon, die Predigt anzuhören?

Jetzt wurde meine Kaltschale mir zu frisch, und ich trat den Rückzug an, wiewohl bedächtig und gemessenen Schrittes, denn ich wagte nicht zu eilen, um das Entsetzen nicht zu wecken und zu reizen, das sich hinter mir zu erheben drohte wie ein bissiger Hund. Das schlimmste war die Passage durch die dunkle Sakristei mit ihrem Bildwerk; aber man muß nur bei solchen Gelegenheiten den Kopf nicht wenden und sich nicht umsehen. Ich kam glücklich durch, wie auch durch die Leichengalerie, die Tür flog ins Schloß, und bald befand ich mich wieder in bewohnten Räumen. Inzwischen sollte meine Mannhaftigkeit noch auf eine härtere Probe gestellt werden.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 278-280.
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