Die Ohren gehen mir auf

[409] In jener gedeihlichen Zeit täglichen Fortschritts und Werdens hatte ich das Glück gehabt, auch noch in einer anderen Akademie Zutritt zu finden, nämlich in der nach ihrem Stifter, einem Kantor Dreyßig, benannten Dreyßigschen Singakademie, damals dem ersten Singvereine Dresdens. Zwar fehlte mir, wie beim früheren Eintritt in den Kunstverein, auch hier die erste Vorbedingung, denn ich konnte nichts weniger als vom Blatte singen; da es aber der Gesellschaft ihrerseits auch an etwas fehlte, nämlich an tiefgestellten Bässen, und ich das Konter-C vernehmlich hören ließ, so mochte man ein Einsehen haben und ließ drei gerade sein. Nach oberflächlicher Prüfung – ich mußte Skala singen und einige leichte Intervalle treffen – wies mir der derzeitige Direktor, Kantor Weinlig meinen Platz bei den untersten Baßpfeifen an, und abends beim Zubettgehen konnte ich meinen Bruder raten lassen, was ich wieder geworden sei.

Die Dreyßigsche Akademie mochte damals an fünfzig Sänger und Sängerinnen zählen, mit meiner Ausnahme lauter Meister, welche die halsbrechendsten Geschichten mit wunderbarer Unfehlbarkeit vom Blatte sangen. Dazu ein Überfluß an guten, zum Teil selten schönen Stimmen, ein reiches Repertorium, ein schönes, zweckmäßiges Lokal und ein ausreichend grober Direktor, das waren die Mittel, mit denen Ausgezeichnetes geleistet wurde. Gesungen wurde nur Geistliches: Oratorien, Messen, Psalmen, dergleichen ich hier nicht zum ersten Male hörte, da ich die klangreichen Gottesdienste der katholischen Kirche oft besuchte, deren turbulente Orchesterbegleitung mir jedoch das Verständnis verwirrte, so daß ich Opern- und Kirchenweisen nicht recht zu unterscheiden wußte. Hier aber, wo die Begleitung nicht mehr dominierte und die Aufmerksamkeit durch eigene Mitwirkung geschärft war, gingen mir die Ohren weit auf für die Schönheit jenes wunderbaren Musikstils, dessen Gravität, Gebundenheit und Einfalt mir das Herz bewegte und meinen Geschmack dermaßen für alle Zeit gefangennahm, daß mich noch heute ein paar Figuren kanonischen Tonsatzes tiefer ergreifen als alle erdenklichen Opern und Symphonien.

Gleich das erste Kyrie setzte mich in Flammen, und immer weiter riß ich den Mund auf, meine Stimme mit steigender Begeisterung in den gewaltigen Chor mischend. Gefahr war dabei keine, weder für mich noch[410] meine Nebenmänner, den Opernsänger Riße und den durch seine künstlichen Automaten berühmten Mechaniker Kaufmann, welche beide mit einer Sicherheit einsetzten wie die Stifte einer Drehorgelwalze und sich so mächtiger Organe erfreuten, daß ich mit dem besten Willen nicht hätte fehlen können. Auch im schnellsten Tempo und durch die verzweifeltsten Figuren rissen sie mich im Sturme mit sich fort, wie ein paar geübte Schlittschuhläufer einen Anfänger, der ohne diese Hilfe Arm und Beine brechen würde.

Diese beiden Nachbarn waren mir sehr freundlich, belehrten und unterstützten mich nach Kräften. Riße ergötzte sich an meinem Eifer und war so wenig unzufrieden mit meiner Stimme, daß er sie sogar bisweilen für sich selbst erborgte. Da es ihm nämlich an Tiefe fehlte, pflegte er seine Solopartien dergestalt mit mir zu teilen, daß er mir die unteren Noten abließ, eine Gaunerei, die so vortrefflich glückte, daß sie ihm Gratulationen wegen Vertiefung seiner Stimme zuzog. Mein anderer Nachbar, Kaufmann, dehnte seine Freundlichkeit sogar noch über die Grenzen unserer gemeinschaftlichen Übungen aus. Er lud mich in sein Haus, zeigte und erklärte mir seine merkwürdigen Erfindungen und war überhaupt die Güte und Zuvorkommenheit selbst; für gewöhnlich nämlich, denn bisweilen kannte er mich auch gar nicht und ließ meinen Gruß nicht nur auf der Straße, sondern selbst in der Akademie unerwidert. Ich glaubte daher, er müsse unter sehr eigentümlichen Aufwallungen an übler Laune leiden, bis ich erfuhr, daß er auf einem Auge blind sei, daher ihm von dieser Seite auch seine besten Freunde entgehen konnten. Ehe man ein Recht hat, sich beleidigt zu fühlen, soll man daher erst zusehen, ob jemandem nicht vielleicht ein ganzer oder halber Sinn fehlt.

Von den übrigen Bekanntschaften, welche die Singakademie mir eintrug, will ich hier nur noch einer Familie Rosenberg gedenken, die erst vor kurzem in Dresden eingewandert war. Der Vater Rosenberg war Arzt gewesen, hatte sich, des Handwerks müde, von der Praxis zurückgezogen und lebte als Privatgelehrter seinen Liebhabereien. Seine liebenswürdige Gemahlin war eine Tochter Hamanns, des berühmten Magus des Nordens, übte aber mit ihren drei Töchtern, die wie Musen aussahen und wie Engel sangen, meines Wissens keine andere Magie aus als jenen Zauber, welcher weiblicher Schönheit und Anmut von Natur[411] und Rechts wegen eigen ist und der auch vollkommen ausreichte, die Anziehungskraft ihres Hauses zu erklären. Durch Koopmann präsentiert, fand auch ich daselbst erwünschten Zutritt und verlebte angenehme Stunden im Kreise interessanter Menschen, unter denen bisweilen sogar Leute auftauchten, für deren bloßen Anblick mancher gern Entree gezahlt hätte. So erinnere ich mich, daß sich hier eines Abends drei illustre Namen: Mahlmann, L. Tieck und Jean Paul zusammenfanden.

Jean Paul zu sehen, den liebenswürdigen Verfasser der Flegeljahre, das war ein Ereignis! Mit größter Spannung sahen Koopmann und ich dem Eintritt dieses Leviathans an Witz und Sentimentalität entgegen, in dessen Gesicht und Wesen, wie wir meinten, etwas ganz besonders Sublimes zur Erscheinung kommen müsse. Aber die Persönlichkeit des großen Dichters entsprach unseren Erwartungen so wenig, daß, wenn der Dr. Rosenberg nicht geschworen hätte, es sei dies wahrhaftig Jean Paul selbst und niemand anderes, wir stundenlang in seiner Gesellschaft gewesen wären, ohne etwas Besseres in ihm zu vermuten als höchstens einen Pächter oder Gastwirt vom Lande, der sich am Teetisch langweilte. Freilich mochte er, wie Hamlet, eine Flöte sein, die nicht jedermann zu spielen verstand – oder war er vielleicht nur zu haushälterisch mit seinem Besten, um es für den Druck zu sparen? Ich weiß nur, daß, mit Shakespeare zu reden, das Futteral der Laute wenig gleich sah.

Von der Singakademie ist schließlich noch zu berichten, daß von Zeit zu Zeit halb öffentliche Aufführungen veranstaltet wurden, zu welchen jedes Mitglied einen oder ein paar Gäste mitbringen konnte. Ich brachte meinen Vater mit, als wir das Requiem von Mozart sangen, und noch sehe ich ihn dasitzen unter den andern Hörern, nach seiner Weise schnurgerade mit gefalteten Händen und freundlichem Gesicht, dem Gesange mit lebhaftem Interesse folgend. Die Mozartsche Totenmesse war die letzte Musik, die er auf Erden hörte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 409-412.
Lizenz:
Kategorien: