Wie es weiter wurde

[389] Mein Hummelshayner Leben begann mit einem Schläfchen, das sechsunddreißig Stunden währte. Zwar wurde mir nachträglich berichtet, ich sei mittlerweile einmal geweckt worden und wie ein bewußtloser Schemen bei Tisch erschienen, doch war ich gleich nach der Mahlzeit wieder zu Bett gegangen und hatte von alledem nicht die geringste Erinnerung.

Nach so außerordentlicher Erquickung war's denn kein Wunder, daß Hummelshayn mir im angenehmsten Rosenlicht erschien, zumal ich die erwünschte Gesellschaft vorfand. Der Quasi-Vetter Hermann, derzeit Primaner zu Kloster Roßleben, hatte wie alle Ferienschüler nicht nur die beste Laune, sondern sogar noch ein paar andere Klosterbrüder, von Wangenheim und von Scheliha, mitgebracht, denen auch nichts weniger abging als das Vermögen, ihr junges Leben zu genießen. Sogar unser alter bewährter Genosse von ehemals, Herr Hannibal Anteportas, derzeit wohlbestallter Page am Rudolstädter Höfchen, war auf Urlaub bei den Eltern und stets mit uns zusammen. Da ertönten denn die Hallen des alten Schlosses, in das man uns logiert, dessengleichen Hof und Garten von jugendlichem Frohsinn, starken Gesängen, wohlgemuten Reden und dem Klirren der Rapiere, die wir fleißig in Bewegung setzten; dazu ward zweimal täglich gebadet und demgemäß gegessen. Kurz, es war ein Ferienleben, wie es im Buche steht.

Endlich wurden jene schönen Tage noch durch eine Wanderung in die Umgegend beschlossen, welche ich mit Hermann allein, und zwar zum Zweck des Wiedersehens mit alten Freunden, Gönnern und Bekannten unternahm. Wir besuchten unter andern in Rudolstadt den genialen Schlachtenmaler Cotta, von dem ich schon früher berichtet, in Katzhütte unseren ehemaligen Lehrer, den Pastor Bäring, in Jena Frommanns,[389] Köthens und den Studenten Förster, bei dem ich abtrat, während Hermann allein nach Drakendorf vorausging, wo seine Eltern unser warteten.

Unter Försters Ägide sah ich von Stadt und Land so viel, als die kurze Zeit von ein paar Tagen gestatten wollte. Auch hospitierten wir bei einigen Professoren, unter denen mich Fries am meisten interessierte, den ich übrigens schon etwas kannte, da er bei gelegentlicher Durchreise durch Dresden unser Haus besucht hatte. Von der eigentümlichen Richtung dieses Mannes war des öfteren bei uns die Rede.

Fries war von Haus aus Herrnhuter und in Herrnhutischen Anschauungen großgezogen, wie sich denn auch in seinem ganzen Wesen und Gehaben das eigentümlich freundliche und milde Gepräge jener Gemeinde nicht verleugnete, die ihm zeitlebens teuer blieb. Ihre theologische Richtung hatte er freilich längst verlassen. Vor dem Lichte wissenschaftlichen Erkennens war ihm der anerzogene Kinderglaube wie Nebel vor der Morgensonne weggedampft, wenigstens in formeller Hinsicht, denn dem Wesen nach behauptete Fries ihn festzuhalten, und zwar nicht bloß mit dem Herzen, wie der geistverwandte Fachgenoß Jakobi, sondern auch begrifflich wie der spätere Hegel. Es waren ja nur die Tatsachen des Evangeliums, wie auch die Dogmen der Kirche, welche sich ihm zu unwesentlichen Bildern und Formeln der göttlichen Idee verkehrt hatten. Die letztere, als das Wesentliche, wollte er beibehalten, nur anders begründen, als es die Kirche tat. Was freilich von einer so abgezwiebelten Idee noch übrigbleiben konnte, mußte er am besten wissen, indessen glaubte er doch an diesem Reste das Christentum zu haben, das er von Herzen wert hielt. Er verkehrte daher auch gern mit gläubigen Christen, bei denen er sich allezeit zu Hause fühlte, wenn sie ihn nur in seiner Eigentümlichkeit gewähren ließen. Sogar nach Herrnhut zog ihn sein Herz des öfteren zurück, sich an den schönen Gottesdiensten der Gemeinde zu erbauen, an ihren Liebes- und Abendmahlen teilzunehmen.

Meinen lieben Vater setzte solche Richtung in einiges Erstaunen. Er konnte nicht begreifen, wo die Sache herkommen sollte, wenn die Ursache fehlte, und war der Ansicht, daß, wenn die heilige Geschichte wirklich geschehen sei, so sei sie wahr, und zwar nach Form und Inhalt: wo nicht, nach beiden Seiten falsch. Gegen solche Alternative mochten etwa die Äsopischen Fabeln ins Feld geführt werden, wie alle Mythen der alten Welt, obgleich sich in beiden auch nichts anderes als die profanste Erfahrungsweisheit offenbart. Aber es schien, daß[390] Fries nicht rechten und jedem die Ansicht gönnen wollte, die ihn befriedigte, oder daß es sich ihm, wenigstens in unserem Hause, nur darum handle, den Vater von der Gleichheit ihrer gegenseitigem Glaubensrichtung zu überzeugen. Die Fassung mochte verschieden sein: der Edelstein blieb doch derselbe. Ob die Evangelisten die Idee, um die sich's handelte, in Geschichten, die Kirche in Dogmen und Gebräuchen, die Kunst in Bildern, die Philosophie endlich in Begriffen zu erfassen und darzustellen strebe, das tangiere oder verändere die Idee selbst nicht im geringsten, und ganz dasselbe, was mein Vater male, das sei auch das, was er, der Philosoph, im Hörsaal demonstriere. Es habe ein jeder seine eigene Sprache.

Von solchen Reden war mein Vater zwar nicht sonderlich erbaut gewesen und noch weniger die Mutter, doch sagte er dieser später: »Der Fries wird doch noch einmal Christ.« Er hielt den jedenfalls sehr liebenswürdigen Mann von Herzen wert.

Ich hörte Fries damals in Jena von der Würde männlichen Charakters reden, die ich denn auch sogleich in mir verspürte, und war nahezu entzückt von seinem Vortrag. Wie gut, dachte ich, haben es doch die Studenten! Es geht wahrhaftig nichts darüber, so überaus behaglich auf bequemer Bank zu sitzen, sich von geistvoller und gelehrten Männern bestens unterhalten und wie ein leeres Faß mit aller Weisheit füllen zu lassen. Von der schweren Not, die mancher hat, sein Faß nachher gehörig zu verspunden, wußte ich freilich nichts.

Aber noch einen weit berühmteren Mann, als Fries es war, ja den gefeiertsten in Deutschland, hätte ich damals sehen und auch reden hören können, wenn ich gewollt hätte, nämlich den Dichterkaiser Goethe, der sich zufällig in Jena aufhielt. Frommanns hatten mich recht eigens auf ihn eingeladen wie auf die größte Delikatesse, die man einem nicht ganz dummen Menschen vorsetzen konnte. Ich muß aber doch zu dumm gewesen sein, oder vielleicht war ich auch nur zu blöde, in Reisekleidern vor dem Minister zu erscheinen – kurz, ich entwich entsetzt nach Drakendorf, von wo ich mit der ganzen Ziegesarschen Familie nach Hummelshayn zurückkam.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 389-391.
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