Der Genius der Kunst

[204] Aber auch zu künstlerischen Leistungen regte mich die Schule an. Mehrere Schüler waren nämlich auf den Einfall gekommen, den Geburtstag unseres sehr verehrten Rektors durch ein Schauspiel zu zelebrieren und hatten auch mich zu ihren Beratungen gezogen. Welches Stück wir gewählt hatten, weiß ich nicht mehr, nur erinnere ich mich, daß ein Dieb durchs Fenster steigen mußte. Nun hatten wir zwar kein eigentliches[204] Theater und wollten die Kulissen nur durch spanische Wände herrichten, die meine Mutter liefern sollte; wegen des Diebes war aber doch eine Wand mit einem Fenster nötig, Dinge, die wir uns selber machen mußten, und ein anstelliger Junge, Sohn eines Stubenmalers, namens Lehmann, übernahm die Leitung dieses Werkes. Als Atelier benutzten wir die Klasse nach geschlossener Schule. Die Bänke wurden weggeräumt, und bei dem matten Schein von ein paar mitgebrachten Talglichtern gingen wir mit Holzleisten, Nägeln, Kleister, Leim und Pappe, mit Schneiden, Hämmern und Farbereiben frisch ans Werk. Jeder tat sein Bestes, und wie der Rektor sich endlich freuen würde, war gar nicht auszusprechen. Freilich würde die Überraschung noch größer sein – schlossen wir –, wenn der Gefeierte die schöne Dekoration erst beim Anfange des Stücks zu sehen kriegte, aber dazu war ein Vorhang nötig, und woher den nehmen? »Der wird von Papier zusammengeklebt!« sagte ich und vermaß mich des weiteren zu versprechen, daß, wenn die anderen nur wüßten, wie er anzubringen sei, so wollte ich ihn wohl malen. Ich dachte: wenn der Sohn des Stubenmalers die Wand mit dem Fenster zwingt, so wird der Sohn des Historienmalers wohl auch den Vorhang zwingen.

Mein Vorschlag wurde mit Applaus gelohnt. Lehmann umarmte mich sogar. »Ich male«, sagte ich trocken, »den Genius der Kunst, schwebend mit seiner Leier auf himmelblauem Grunde, und Lehmann faßt das Ganze mit einer Wein- oder Hopfengirlande ein, oder wie er will, denn ich verstehe mich nur auf Figuren.« Sogleich skizzierte ich den Schweber auf ein Blatt Papier, Lehmann entwarf etwas wie eine Girlande darum, und diese erste Erfindung übertraf die Erwartung aller, auch meine eigene; ich brannte vor Begierde, sie auszuführen.

Die nächsten Abende fanden uns in voller Arbeit. Wir leimten erst Papiere an Papiere, verkleisterten uns dabei die Hände, die Hosen, Jacken und Haare, und am Ende klebte die ganze Geschichte unlösbar fest am Boden. Es war entsetzlich! Nur in Fetzen brachten wir den Vorhang wieder los und verbrauchten den ganzen Rest des Abends mit Reinigen des Fußbodens. Aber immerhin hatten wir jetzt gelernt, wie man's nicht machen müßte, und das nächste Mal ging's besser. Die Tabula rasa brachten wir wirklich zustande, und es fehlte jetzt nur noch eine Kleinigkeit, der Genius nämlich, den man von meiner Geschicklichkeit erwartete.

Ich überzog nun – wie es der Vater machte – die Skizze mit gelehrten Quadraten, desgleichen auch den Vorhang, und begann mein Werk ins Große aufzuzeichnen. Ich war durchglüht von Schöpferlust und arbeitete mit Begeisterung. Nie habe ich später wieder so kecke und[205] markige Kohlenstriche gemacht. Die anderen umstanden mich staunend, und als nun nach und nach die deutlichsten Umrisse einer lebensgroßen Gestalt erschienen, erquickte mich aufrichtiger Beifall. Nur das Gesicht ließ noch zu wünschen übrig. An dem seinigen, das er verzerrte, zeigte mir einer, wie es sich ausnähme. Ich sagte aber, das gäbe sich bei der Ausführung.

Darauf verließ ich die Werkstatt zwar sehr befriedigt von dem, was ich bis dahin geleistet hatte, aber doch mit einiger Besorgnis, die nicht bloß jenem Gesichte galt: ich wußte überhaupt nicht, wie's weiter werden sollte. Wohl konnte ich einen Umriß zeichnen, der mir und meinesgleichen genügte; ihn aber mit Farben, Licht und Schatten, und noch dazu in so bedeutender Größe auszufüllen, das fing mir an, bedenklich zu werden. Indessen war der Hintergrund das nächste, und das Weitere, hoffte ich, würde sich finden. Auch fand sich's wirklich.

Der treffliche Lehmann hatte einen großen Topf voll Farbe gerieben, schöne himmelblaue von erster Qualität, und in Strümpfen auf dem Bilde umherkriechend, begannen wir den Anstrich. Ich umzog die Umrisse, andere füllten, und in Zeit von einer einzigen Stunde war alles radikal verdorben. Unser bis dahin so wohlgeratener Vorhang war mit Falten überzogen wie ein Sturmmeer, welches verknöchernd die Farbe fleckig auftrocknen ließ. Trotz unserer physikalischen Gelehrtheit waren wir mit der Natur des Papiers doch zu unbekannt geblieben.

Mir fiel ordentlich ein Stein vom Herzen und den andern auch; denn so wenig ich mich einer weiteren Ausführung gewachsen fühlte, so wenig wußten jene, wie und wo sie den großen Vorhang befestigen und auf welche Weise sie ihn zum Auf- und Niederrollen bewegen wollten. Es machte mir daher keiner einen Vorwurf, und nach einiger Überlegung wickelten wir unser Tableau zusammen, um es auf dem Schulboden bis zum nächsten Geburtstage zu verwahren. Bis dahin konnten sich wohl Mittel finden, es zu glätten. Die Komödie führten wir ohne Vorhang auf.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 204-206.
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