Die Betörten

[240] Müller war an jenem Abende nicht in sein Haus zurückgekehrt, sondern trotz Sturm und Regen spazierte er im Vollgenusse seiner Wunderkraft zum Tore hinaus, weithin durch die sogenannte Heide, bis nach dem anderthalb Meilen entfernten Hermsdorf. Dort wußte er nämlich einen gichtkranken Leinweber, den er ebenfalls kurieren wollte. Da er aber das Haus verschlossen fand, auf sein Poltern und Rufen auch niemand öffnete, zerschlug er ein Fenster und ward beim[240] Einsteigen vom Dorfwächter verhaftet. Glücklicherweise kannte ihn der Guts- und Gerichtsherr, Burggraf zu Dohna, wenigstens von Ansehen und brachte ihn noch denselben Abend in seinem Wagen zurück nach Dresden, wo er unter Aufsicht gestellt wurde.

Übrigens hatte Müller im Laufe des Tages bereits seine Proselyten gemacht. Unterstützt von dem leichtbetörten reformierten Prediger Stieffelius, dem er sich zuerst anvertraute, war es ihm gelungen, mehrere junge Damen zu überreden, sich bei dem projektierten Aufzuge zu beteiligen. An ihrer Spitze stand ein uns bekanntes liebenswürdiges Mädchen, eine junge Bremerin, die sich in Dresden aufhielt, um sich zur Malerin auszubilden. Diese, von Müllers nächtlicher Exkursion nichts ahnend, begab sich folgenden Morgens zu ihm mit Proben weißen Zeuges, in das die Prozession sich kleiden sollte. Zu ihrem Schrecken fand sie den Propheten streng bewacht und in ärztlicher Behandlung. Den obstinaten Doktor aufzuklären, wollte ihr nicht gelingen. Sie war außer sich. Ob man denn niemals aufhören werde, hatte sie gefragt, die Werkzeuge des Himmels zu kreuzigen und zu verfolgen? Da sie aber hörte, daß ihr Heiliger sich rühmte, meine Mutter geheilt zu haben, faßte sie schnell den Plan zu einer Rettung.

Wir saßen noch beim Frühstück, als das arme Mädchen in Begleitung des Herrn Pastors Stieffelius, von dessen Existenz wir bis dahin nicht die geringste Kenntnis hatten, bei uns einbrach und sich, durch Tränen lächelnd, der genesenen Mutter um den Hals warf.

»Sie sind gesund?« rief der gleichfalls entzückte Geistliche, und da die Mutter dies nicht leugnete, bestürmten beide sie mit aller Wut der Überredung, sogleich mit ihr aufs Stadtgericht zu eilen, um durch ihr Zeugnis den verkannten Müller zu befreien. Schon warte die mitgebrachte Portechaise in der Hausflur, fügten sie hinzu.

Es waren tolle Augenblicke: meine Mutter war ebenso entsetzt über die Verworrenheit ihrer Gäste, als diese vor Freude berauscht waren über das Wunder, das sie vor Augen sahen. Und stand die gestern noch halbtot gewußte Frau denn nicht in Wahrheit frisch und gesund vor ihnen? Und mußte Müller nicht aufs glorreichste triumphieren, wenn sie als lebendiger Beweis von Müllers hoher Wunderkraft vor der Obrigkeit erschiene?

Die guten Menschen kannten meine Mutter wenig, die ebenso gern im Ballett aufgetreten wäre, als sich in der Eigenschaft eines Wunderobjektes vor der Obrigkeit zu präsentieren. Zudem erklärte sie sich ihre Genesung ganz natürlich. Zwar war sie weit entfernt, es in Abrede[241] stellen zu wollen, daß Gott auch heute noch Propheten erwecken könne; aber den Professor Müller hielt sie für keinen solchen, sondern nur für einen Kranken, den man beweinen, nicht aber in seiner Tollheit bestärken möge. Verletzt durch solche Skepsis, zogen sich endlich die beiden Proselyten samt ihrer mitgebrachten Portechaise wieder zurück, und meine Mutter klagte, daß die ganze Welt verrückt geworden sei. Es wären ja nur drei im ganzen, erlaubte ich mir zu bemerken, aber sie entgegnete, es reiche das schon aus, und wie viele außerdem noch angesteckt wären, könne man gar nicht wissen.

Unsere Wohnung glich nun einem Jahrmarkt, so drängte sich's und wogte, da sich Bekannte und Unbekannte von dem stattgehabten Wunder persönlich überzeugen wollten, und vielleicht hätte es nur von meiner Mutter abgehangen, dem armen Thaumaturgen eine Gemeinde zu gewinnen. Müller selbst versank unterdessen immer tiefer in die schauerlichen Abgründe des Wahnsinns. Mit seinem Prophetenamte begnügte er sich nicht mehr, hielt sich für Christus, fing an zu toben und mußte auf den Sonnenstein gebracht werden, wo er bald verstorben ist.

So endete einer der harmlosesten und liebenswertesten unserer Dresdener Bekannten. Er machte den Eindruck eines stillen, bescheidenen Menschen, dessen Leben keinerlei Ausschweifung darbot und dessen Denkungsweise von Schwärmerei weit ablag. Vielleicht aber, daß die Riesenarbeit seines letzten Werkes (der so berühmt gewordene Kupferstich nach der Sixtinischen Madonna), an welchem er sieben Jahre lang mit rastlosem Fleiße gearbeitet, durch Überanstrengung sein Nervenleben gestört und ihm das erste Trugbild zugeführt hatte.

Quelle:
Kügelgen, Wilhem von: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Leipzig 1959, S. 240-242.
Lizenz:
Kategorien: