August Macke 25.12.1910

[30]  

Bonn, 2. Weihnachtstag 1910


Lieber Franz!


Du hast uns eine kolossale Freude gemacht. Also wir waren ganz platt über die Bröngsgen. Sie sind ganz famos. Man kann getrost im Dunkeln daran herumtasten. Sie sind ganz famos geglückt. Nebenbei ist es mir eine riesige Anregung, an meinen Güssen weiter zu arbeiten, die halb fertig daliegen.

Die Kachelschüssel in Cadmium ist einzig, und über die köstlichen Figürchen habe ich Dir wohl schon zuviel vorgeschwärmt, so dass ich fast fürchte, dieser Herzblutporzellankörperchenaderlass hat Folgen für Dein Gemüt. Aber es sei Dir ein Trost, dass wir die kleinen Herren gut pflegen. Frl. Franck schickte uns den köstlichen Pflaumenpelzkastanienonkel (mir scheint, er singt Bariton). Der Bubi musste ihn in allen Stellungen bewundern.

Sei bitte so gut und sprich ihr unsern besten Dank aus. Es hat uns alles das kolossal gefreut. Hoffentlich kommt Ihr zu gleichem Genuss über die kleinen ›Camoins‹, die ich Euch schickte.

Nun noch ein kleines Fachgesimpel. Ich war in Hagen, sah zwei Matisse, die mich entzückten. Eine grosse Sammlung japanischer Masken. Göttlich! Freie Vereinigung. Hing in schlechtem Licht.[31]


August Macke 25.12.1910

Kanoldt wirkte wieder als der Selbstverständliche. Überhaupt das Selbstverständliche, das durch sich Selbstverständliche. Ich sah auch hier bei Munter Sachen von Kandinsky und Frl. Munter. Ein kleines Bilderskizzenbuch von der ganzen Vereinigung. Ich habe den Eindruck: Die Sezessionen (im Gesamtcharakter) geben viel zu viel ›gut Gemaltes‹. In München malt man Münzer-, Erler-, Eichlersche Künsteleien (von anderen nicht zu reden). Die Vereinigung ist sehr ernst und mir als Kunst das liebste von all denen. Aber, aber – es schüttelt mich nicht. Es interessiert mich stark. Die Bossi, Munter, Kanoldt sind vielleicht die schwächsten und deshalb die selbstverständlichsten. Kandinsky, Jawlensky, Bechtejeff und Erbslöh haben riesiges künstlerisches Empfinden. Aber die Ausdrucksmittel sind zu gross für das, was sie sagen wollen. Der Klang ihrer Stimme ist so gut, so fein, dass das Gesagte versteckt bleibt. Dadurch bleibt etwas Menschliches aus. Sie ringen, glaube ich, zu sehr nach Form. Man kann viel lernen von diesem Streben. Aber frühe Sachen von Kandinsky, und auch etwas von Jawlensky, sind mir ein wenig leer. Und die Köpfe von Jawlensky sahen mich auch etwas zu sehr mit Farben an. Mit Blau und Grün. Hoffentlich verstehst Du, was ich meine. Es fehlt mir zur Grösse das Selbstverständliche Buschs, Daumiers, manchmal auch Matisses oder japanischer Erotikas.

Ich denke noch, wie ich zum ersten Mal Deine Pferdelithographie sah. Die hat mich gepackt und tut's noch, weil das Pferd im Freien so gut ausgedrückt war. Das Kreisen der Tierkörper. Mit gewissen Temperaakten von Dir ging es mir ein wenig anders. Sie waren mir etwas gezerrt. Etwas gotisch-minneartig. Ich will damit sagen: Das Einfache der Ägypter, Giottos, Frans Hals', Daumiers ist das, was uns treiben soll. Ein einfacher Gedanke, kreisende Bären, lesende Mädchen, stehende Menschen, flimmernde oder ruhig glimmende Landschaften, rote Äpfel, gelbe Zitronen, braune Pferde. Je einfacher, grösser die Sache ist, umso schwerer die Sprache dafür zu finden. Dabei soll man keineswegs eigenbrödlerisch sein, aber sich in allem Wust auf sich selbst besinnen. (Ich schreibe das nicht für Dich, da ich weiss, dass Du Deine eigenen Gedanken hast, sondern um Dir meine Gedanken zu zeigen). Du hast wahrscheinlich die Photographie von Nauens grossem Bild gesehen. Ich[32] fühle darin auch vieles Gezerrtes. Ich habe glänzende Zeichnungen gesehen von ihm. Der erste Eindruck war direkt packend. Aber dieses Monumentalbild? Die Schlichtheit fehlt mir etwas. Das Bild spricht mir nicht einfach genug: Hier bin ich, nehmt mich, ich bin gerne bei Euch, wenn Ihr mich wollt.

In Hagen besuchte ich Thorn-Prikker. Er hat ein Riesenglasfenster im Karton gezeichnet. In seiner Art kolossal. Ich habe ihn wegen gewisser Maßsysteme gefragt, von denen Helmuth sprach, die Bedeutung aber nicht wusste. Es handelt sich um ein Mittel, das Kompositionsgefühl zu sichern, wovon T.-P. überzeugt ist, dass es alle Italiener bewusst angewandt haben. Eine rechteckige Fläche, mit Diagonalen und den weiteren nebenstehenden Linien a–b. Die bezeichneten, durch Kreuzung dieser Linien entstehenden Punkte sollen immer die Hauptpunkte des Bildes enthalten, ebenso Linien (Beine, Falten, Bergrücken etc.) in die Linien gezeichnet, respektive in Beziehung gebracht werden. Es ist ein eigentlich systematisches Papierknittern, aber nicht uninteressant. Mit einem Zwirnsfaden kann man die Linien auf Bildern nachmessen und findet besonders bei manchen Venezianern und Raffael und anderen an Schnittpunkten Hände, Popospalten und sonstige wichtige plastische Punkte angebracht.[33]


August Macke 25.12.1910

Über Deine Farbentheorie habe ich mich sehr gefreut. Sie ist doch ähnlich wie meine.


Melancholie

Brutalität

Heiterkeit

Mann

Materie

Weib


Und die Annäherung von Rot und Gelb ist auch sehr richtig, liegt aber unter Umständen beim Maler an der Intensität der Pigmente. In der reinen Theorie ist es schlecht denkbar wegen der Dreiteilung. Aber ist es nicht so, ein Teil Rot wiegt mindestens 10 Teile Grün auf, während ein Teil Grün von 10 Teilen Rot gefressen wird. Ich halte riesig viel von der Idee von Matisse (mit der Wirksamkeit der Flecken und Striche auf verschiedenen Flächen). Auch das Studium der Ausdrucksmittel empfiehlt er sehr richtig; deshalb sprechen die Japaner so gut mit ihren Pinseln, weil sie auch so schön damit schreiben können.

Nun, lieber Marc Franzl, muss ich Dir noch danken für die Besorgung der Miniatur, die wir nach hartem Hin- und Herüberlegen unserem lieben Schwager als Weihnachtsgeschenk abgeknöpft haben, d.h. ich kriege die Höhlenhälfte, die herrlich ist, und er die Krieger. Nun sei so gut, und sieh einmal mit Deiner grossen Geschicklichkeit, den Hirsch zu bewegen, die Blätter billiger zu lassen. Ich schreibe ihm ein Märchen von eventuellem Kaufen, aber zu teuren Fleischpreisen. Vielleicht schickt er mir mal japanische Erotika zur Ansicht. Er muss sich gut bei uns einführen. Sag ihm das doch mal. Wenn's nicht geht, ist's ja auch belanglos, aber versuchen tut man's. Proheretzky schicke ich einige Bücher japanisches Kunstgewerbe zurück, weil sie mir langweilig sind. Vielleicht suchst Du mir dafür etwas aus (Holzschnitt, Netzuke oder etwas, was Dir gefällt). Es sind fünf Bücher à 3.50, aber fein muss es sein. Er hat so kleine erotische Blättchen.

Nun lebe wohl, schreib mal was und lass Dich herzlich grüssen von


Deinem August Macke

Quelle:
Franz Marc, August Macke: Briefwechsel. Köln: DuMont, 1964., S. 30-34.
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