250 [207] Brief an Elisabeth Macke

29.1.1915


Liebe Lisbeth, wie hat mich Dein guter Brief gefreut! Du lebst und fühlst so sehr im Ganzen und Vollen mit uns allen draußen, daß Dir jeder Soldat dankbar die Hand drücken möchte, auch wenn er nichts von Deinem besonderen Leid weiß, das Dein Leben für immer in das Schicksal dieses Krieges verflochten hat. Ich liebe heute alle Menschen, deren Herzen mit unserm Leben und mit dem Schicksalswillen dieses Krieges mitzittern. Es gibt merkwürdigerweise doch auch viele, die ängstlich alles meiden, was ihre Seele in den Krieg hineinziehen könnte, die ›Neutralen‹ im Lande! Es freut mich, daß Du aus meinem schlichten Nachruf [Aufzeichnungen Nr. 25, d. Hrsg.] die Liebe und Verehrung herausfühlst, mit der ich ihn seinerzeit in dem melancholischen Hagéville geschrieben habe. Deine Idee, ihn neben dem Feldpostbrief von Dr. Samuel zu bringen, ist sehr glücklich. Ein solcher Nachruf steht natürlich so völlig außerhalb der kleinen Kunstpolemik vor dem Kriege, daß ich selbstredend gar nichts gegen seinen Abdruck in ›Kunst und Künstler‹ habe. Bestimme Du mit Maria vollkommen darüber, wo ihr ihn bringen wollt. (Ich schrieb Maria auch, daß ich mit K. und K. gern einverstanden bin, – vielleicht übernimmst Du im gegebenen Fall die Korrespondenz mit Scheffler.) Mein einziger Wunsch ist, daß es Dir und unserm Freundeskreis von Augusts Wert und unserer gemeinsamen Liebe erzählen soll. Hörst Du etwas von Helmuth? Ich habe seit dem 6ten Dez. keine Nachricht mehr von ihm und bin etwas in Sorge. Schreib mir doch, wenn Du etwas über ihn hörst. Herr Koehler schrieb mir sehr treu und lebendig von seinem Besuch bei Euch, es waren wehmütige und aufregende Tage für ihn, er leidet furchtbar unter dem Tod seines jungen liebsten Freundes. Ich denke auch[207] daran, wie wehmütig mich ein Besuch in Eurem lieben Häuschen machen würde, und doch möchte ich so gern einmal, noch einmal Augusts Atelier sehen, seine letzten Arbeiten und den kleinen Wolfgang kennenlernen. Wann wird das alles einmal sein? Und wie wird es dann in Europa aussehen? und in unsern Herzen! Auch ich komme nicht mehr ganz als derselbe zurück. Der Krieg hat mein ganzes Denken wie im Sturm durchschüttelt. Ach ja, die vergnügten Glasbildchen, die sehen jetzt auch gewiß melancholisch und ernst drein – so verändern sich die Dinge!! Leb wohl und bleib so mutig und lebensvoll, wie wir Dich immer kannten und wie Dich Deine Briefe zeigen. Grüße herzlich Deine ganze Familie; wenn Du einmal Dr. Samuel schreibst, füge bitte einen kameradschaftlichen Gruß von mir bei. – Weißt Du, was mir gerade einfällt? ein Zukunftsbild: die erste Begegnung Deiner beiden Buben mit den Niestléschen Mädchen – auf solche köstlichen Augenblicke, die noch kommen werden, freu ich mich!

Von Herzen Dein

Frz. Marc.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 207-208.
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