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[102] Grube (bei Schlettstadt)

12.IX. [19]14


Liebe Maria, heute versuche ich mal, ein Briefchen zu schreiben ... Ich denke so viel über diesen Krieg nach u. komme zu keinem Resultat; wahrscheinlich, weil die Ereignisse mir den Horizont versperren. Man kommt nicht über die Aktion hinweg, um den Geist der Dinge zu sehen. Jedenfalls aber macht der Krieg aus mir keinen Naturalisten, – im Gegenteil: ich fühle den Geist, der hinter den Schlachten, hinter jeder Kugel schwebt, so stark, daß das Realistische, Materielle ganz verschwindet. Schlachten, Verwundungen, Bewegungen wirken alle so mystisch, unwirklich, als ob sie etwas ganz anderes bedeuteten, als ihre Namen sagen: nur ist alles noch von einer grauenvollen Stummheit, chiffriert, – oder meine Ohren sind taub, übertäubt vom Lärm, um die wahre Sprache dieser Dinge heut schon herauszuhören. Es ist unglaublich, daß es Zeiten gab, in denen man den Krieg darstellte durch Malen von Lagerfeuern, brennenden[102] Dörfern, jagenden Reitern, stürzenden Pferden od. Patroullienreitern u. dergl. Dieser Gedanke erscheint mir direkt komisch, selbst wenn ich an Delacroix denke, der's doch noch am besten gekonnt hat. Uccello ist schon besser, ägyptische Friese noch besser, – aber wir müssen es doch noch ganz anders machen, ganz anders! Wann werde ich wohl wieder malen dürfen? Ich bin froh, daß ich von den Kriegsfreiwilligen weg bin, – ich glaube doch hier in unsrer Landwehrtruppe mehr Aussicht zu haben, früher heimkehren zu dürfen als die frischen Kriegsfreiwilligen. Frühjahr wird's wohl werden! Ich glaube an kein früheres Datum. Aber vielleicht geht's doch noch eher! Wenn diese Engländer nur nicht alles verschleppen! Ich mach jetzt Schluß, lebt wohl, seid beide umarmt von Eurem Franz.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 102-103.
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