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[108] Schlettstadt 15.X 14


Liebste, beiliegd. No III [Nr. 26, d. Hrsg.]. Mein Name kann am Anfang, unter dem Titel stehen. Andere an Kleinigkeiten, soviel Du willst, aber das Ganze möchte ich doch gebracht wissen, auch wenn es in seinem (wahrlich milden) Angriff gegen die Professoren Widerspruch erregt. Die Sache ist symptomatisch doch ein ernster Fall u. ich kann sie nicht gutheißen. Du wirst Dich wohl wundern, daß ich heute so über die ›Wissenschaft‹ denke, im Gegensatz zu früher. Ich fand den Ausgleich nicht zw. mod. Wissensch. u. der Kunst, die ich im Kopfe hatte. Er muß aber gefunden werden u. nicht au détriment des sciences, sondern in voller Verehrung vor der europ. exakten Wissenschaft; sie ist das Fundament unseres Europäertums; wenn wir wirklich eine eig. Kunst haben werden, wird sie nicht in Feindschaft mit der Wissensch. leben. Schicke Exemplar der Vossischen an Koehler (mit ein paar Worten, daß ich es im Lazarett geschrieben etc.) dann an Kubin; ich bekam heute einen sehr netten Brief von ihm. Vielleicht besucht er Dich einmal; er möchte gern, hat nur sehr wenig Geld zum Reisen. Kandinsky u. Jawl[ensky] sind in der Schweiz, Klee scheinbar auch nach Kubins Brief. Schreib mir mal Kand. Adresse, wenn Du sie erhalten kannst, vielleicht durch Klee. Schick ferner eine Nummer an Niestlé; er schrieb mir auch heute. [...] Morgen geht's wieder los! Ich freu mich recht, wieder viel zu sehen[108] u. zu erleben. Ich hätte wohl einen Tag nach Colmar fahren können, wollte aber nicht, weil ich mir es für meine Vogesen-Reise mit Dir aufsparen will, – ist es nicht lieb von mir? So hab ich doch etwas, was ich nicht kenne, den clou der Reise, noch vor mir. Aber in Straßb., wo ich Station mache, um über die Richtung m. Truppe etwas zu erfahren (sie soll bei Metz stehen, hörte ich heute) will ich in die Galerie gehen u. Memling u. Kölner sehen! Ich hab das Elsaß, von dem ich jetzt scheide, sehr liebgewonnen; der französische Einschlag macht es so traulich u. graziös, auch melancholisch. Der Dialekt ist sehr komisch, aber nicht unsympathisch. Furchtbar ist mir der Dialekt der Württemberger u. Schwaben, – ich kann ihn so wenig ohne Nervosität hören wie das Sächsische, während ich erst jetzt ein Ohr für die Originalität des Kölnischen bekommen habe, das ich sehr gern höre. Der Krieg ist nämlich die reine Schule für Dialekt hören. Das Bayer, wirkt auch anders als daheim, auf mich viel besser; es hat etwas Würdiges, Bedächtiges u. ungeheuer Sicheres; wenn man einen Bayer zwischen all diesen Mundarten hört, imponiert er; es liegt etwas in sich Ruhendes darin. Etwas dumm wirken Hanno veraner auf mich, während famos Ostpreußen; ich hatte längere Zeit einen Ostpreußen als Putzer. [...]

Ich warte hier jedenfalls Dein Paket ab. Im Notfall reise ich erst Freitag mittag; es wird aber wohl schon vorher kommen. – Heut saß ich genauso friedlich (nur leider ohne Dich) auf einer Bank im Stadtgärtchen wie damals mit Dir auf der Bank unter uns. Apfelbaum, ehe ich fortzog, in ähnlicher Abschiedsstimmung wie damals. Die Tage hier waren wirklich so nett, daß es für mich ein wirklicher Abschied von hier wird. Und wie kam ich hier an! Als ich aus der Bahn stieg u. 100 Schritte gegangen war, setzte ich mich erschöpft auf eine Bank; ich muß doch recht elend ausgeschaut haben; zweimal kamen Leute u. frugen, ob sie mir etwas bringen könnten, Limonade od. dergl.! Limonade u. mein Magen! Um die Leute nicht weiter zu beunruhigen, schlich ich damals weiter in die Jägerkaserne. Abds war es mir ja dann besser u. ich bummelte durch das Städtchen. Aber den Gang vom Bahnhof in die Kaserne werde ich nie vergessen. Ähnlich schlecht war es mir, als ich mich andern Tages in's Garnisonslazarett schleppte. Nachher amüsiert man sich über solche Erinnerungen, die mir eigentlich erst heute wieder kommen, wo ich weggehe. Sei Du u. Maman hzl. umarmt von Eurem Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 108-109.
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