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[127] 2. Jan. 15


Liebste, im Gegensatz zu gestern ist heute ein abscheulicher Regentag; es ist alles so verschleiert, daß an Schießen nicht zu denken ist. Dafür war gestern mittag und nachmittag eine derart furchtbare Kanonade, wie ich sie bis jetzt noch nicht gehört hatte; alles zitterte und gellte. Eine Reihe Dörfer brennen. Es ist ein zu merkwürdiger Krieg: Von einem systematischen Durchbruchsversuch der Franzosen ist keine Rede. Meist lassen wir die Franzosen anfangen; kaum ist der erste Granatengruß herübergekommen, quittieren wir mit einem gleichen. So folgen sich die ›Gänge des Duells‹, bis dem einen oder andern plötzlich die Geduld reißt und er ›Ruhe haben will‹ und er, nach Erkundigung der feindlichen Stellung durch die vorangegangenen Einzelschüsse, mit wahnsinnigen Salven losgeht; es kommt eigentlich darauf an, wer zuerst zu diesen Salven wirksam übergehen kann. Liegen die Schüsse gut, verstummt der Feind, um seine Stellung nicht noch mehr zu verraten. Gestern sollen wir 2 französische Gebirgsgeschütze vernichtet haben. Als ›Strafe‹ schossen die Franzosen Sennheim in Brand. Wir revanchieren uns, indem wir Thann in Brand schießen. An Vorgehen hier in die Berge ist ja nicht zu denken; und die Franzosen trauen sich auch nicht in die Ebene; hier kann nie eine große Schlacht oder Entscheidung fallen. Ich sitz in warmer Stube und schreibe an meinem Artikel! Alles Liebe und Gute und Küsse von D. Fz. M.

Quelle:
Franz Marc: Briefe, Schriften, Aufzeichnungen. Leipzig: Gustav Kiepenheuer, 1989, S. 127.
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